Gesellschaft für Orthopädisch-Traumatologische Sportmedizin

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Fliegende Fäuste im Ring: Verletzungen und Prävention beim „Olympischen“ Amateurboxen

Boxen gehört zu den ältesten organisierten Wettkampfsportarten überhaupt und hat sich in seiner langen Geschichte stetig transformiert. Das Boxen kam durch englische Einflüsse, zunächst als Unterhaltungssport, erst Ende des 19. Jahrhundert nach Deutschland. Hier wurden ohne einheitliche Regeln vor allem in Hafenstädten wie Hamburg, Lübeck und Bremen die ersten (Schau)-Wettkämpfe in Varietés, Theatern und privaten Sportclubs ausgetragen. Es gab auch schon 1908 erste bezahlte Profiboxkämpfe.

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Schon damals entwickelte sich parallel das Boxen in zwei Richtungen: Zum einen in den Amateur- und zum anderen in den Profiboxbereich mit unterschiedlichen sportlichen Regeln und entsprechend divergierenden Sportverbänden. Der Übergang von vielen guten Amateurboxern ins Profiboxen war immer schon ein leidiges Thema und erschwerte deutlich Talentförderung und langfristige Bindung von Topsportlern an den Amateursektor. In den 20er und 30er Jahren boomte dann erstmalig das Profiboxen (Max Schmeling 1930) in Deutschland.

Als ältester,1906 gegründeter und noch aktiver Amateur-Boxverein gilt der SC Colonia 06 Köln. 1920 wurde dann der erste Amateur-Weltverband (FIBA) und damit auch der erste deutsche Dachverband für das Amateurboxen gegründet (DRfAB) und anschließend 1950 vom Deutschen-Amateur-Box-Verband (DBAV) zum heutigen Gesamtdeutschen Deutschen-Boxsport-Verband (DBV) mit aktuell über 81000 Mitgliedern in 17 Landesverbänden und 900 Vereinen und Sportabteilungen abgelöst.

2023 wurde dann auch ein neuer Amateur-Weltverband (World-Boxing (WB)) gegründet, um eine IOC-konforme Struktur für das olympische Boxen aufzubauen, da der vorherige Weltverband (IBA) seine Anerkennung beim IOC verloren hat. Saubere Governance mit voller IOC-Konformität sowie Integrität der Wettkämpfe mit Schutz vor Manipulation ist das erklärte und richtige Ziel für das olympische Boxen der Zukunft.

Das Amateurboxen wird bei Männern wie Frauen (+U19 männliche/weibliche Jugend) grundsätzlich in 10 Gewichtsklassen eingeteilt. In den höheren Gewichtsklassen beider Geschlechter (> Halbmittelgewicht 70kg) wird im Wettkampf mit den schwereren 12 Unzen-Handschuhen (340g) geboxt. Im Vergleich dazu boxen Profis, je nach Verband, in bis zu 17 Gewichtsklassen und mit deutlich leichteren und damit auch härteren 8-10 Unzen Handschuhen. Das Alterslimit für Amateurwettkämpfe liegt generell bei frühestens 10 bis 35 Jahren. Mit ärztlicher Ausnahme (durch die Ärztekommission des DBV) auch bis 40 Jahren. Boxen als Breitensport kann danach allerdings ohne Alterslimit weitergeführt werden.

Bei den Männern gibt es aktuell 7 olympische Gewichtsklassen:

Gewichtsklasse Gewichtslimit
Fliegengewicht (Flyweight) bis 50 kg
Bantamgewicht bis 55 kg
Leichtgewicht (Lightweight) bis 60 kg
Weltergewicht (Welterweight) bis 65 kg
Mittelgewicht (Middleweight) bis 75 kg
Schwergewicht (Heavyweight) bis 90 kg
Superschwergewicht (Super Heavyweight) über 90 kg

Bei den Frauen sind es aktuell 6 olympische Gewichtsklassen (Stand 2024). Der Zugang zum Amateurboxen war für Frauen nicht immer einfach und wurde in vielen Ländern erst in den 1990er Jahren geöffnet. Der große Durchbruch kam dann mit der Aufnahme des Frauenboxens als offizielle Disziplin bei den Olympischen Spielen 2012 in London. Seitdem hat das Frauenboxen international enorm an Sichtbarkeit und Bedeutung gewonnen. Mehr Gewichtsklassen, mehr Ligen und Turniere und eine immer deutlichere Gleichstellung zu den Männern was Regelstruktur und Turnierangebot angeht.

Der neu gegründete Weltverband World Boxing strebt aber für die nächsten Olympischen Spiele in Los Angeles 2028 Gender-Parität an: Es sollen sieben Gewichtsklassen sowohl für Männer als auch für Frauen vorgesehen sein.

Olympische Frauen-Gewichtsklassen Gewichtslimit
Fliegengewicht bis 51 kg
Bantamgewicht bis 54 kg
Federgewicht bis 57 kg
Leichtgewicht bis 60 kg
Weltergewicht bis 65 kg
Mittelgewicht bis 75 kg

Die Kämpfe der Männer und Frauen sowie der männlichen und weiblichen Jugend werden über drei Runden zu je drei Minuten mit je einer Minute Pause zwischen den Runden ausgetragen.

Medizinische Überwachung – ein integraler Bestandteil

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Dr. med. Mark Dorfmüller – hier mit Nelvie Tiafack, Bronzemedaillengewinner im Superschwergewicht in Paris 2024

Die medizinische Betreuung im Amateurboxen ist kein „Add-on“, sondern ein tragender Pfeiler des Systems. Ohne einen Arzt dürfen keine Boxkämpfe durchgeführt werden. Zunächst muß für jeden Athleten/ jede Athletin die allgemeine gesundheitliche Befähigung für Wettkämpfe durch einen Arzt festgestellt werden. Die erstmalige Grund- und die regelmäßigen Jahresuntersuchungen sowie notwendige Sperren werden grundsätzlich im DBV-Startausweis, ohne den Wettkämpfe nicht möglich sind, dokumentiert. Vor und nach jedem nationalen/internationalen Wettkampf wird der Kämpfer auf seine Boxfähigkeit untersucht und dies im Startausweis dokumentiert.  Kontinuierliche neurokognitive Beobachtungen, mit Eingangs- und Verlaufstesten sowie standardisierte Return-to-Competition-Protokolle gehören beim Boxen inzwischen zur medizinischen Grundversorgung. Darüber hinaus wird im Olympiastützpunkt Heidelberg gerade das Polar-Cap-System zur frühen Behandlung von milden SH-Traumen beim Training und Wettkampf getestet. Auch wurde ein neuartiges Trainingsgerät (Sensospine) zum spezifischen Training der Kopf-Hals-Muskulatur mit virtual-reality Steuerung vorgestellt und im Verlauf des kommenden Trainingszyklus ausführlich getestet.

 Typische Verletzungen – ein klarer Schwerpunkt auf Kopf und Hände

Amateurboxen ist trotz aller Sicherheitssysteme ein Kontaktsport. Das olympische Boxen ist im Vergleich zum Profiboxen durch höhere Schutzmaßnahmen (Kopfbedeckung im Nachwuchs, kürzere Kampfzeiten, strengere ärztliche Regeln) gekennzeichnet, aber dennoch hochbelastend.

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Typische Verletzungen lassen sich in akute und chronische Muster gliedern:

A.) Akute Verletzungen:

1. Kopf- und Gesichtsverletzungen:

• Kontusionen, Platzwunden, Hämatome (Orbita, Jochbogen, Augenbrauen) sind am häufigsten
• Nasenbeinfrakturen und Septumdeviationen relativ typisch und seit weglassen des Kopfschutzes vermehrt
• Zahn- und Kiefertraumata trotz Mundschutz möglich, v. a. bei lateralen Schlägen

2. Gehirnerschütterung (SHT Grad 1)

• Häufigste relevante Verletzung des ZNS im olympischen Boxen
• Symptome oft verzögert → standardisierte SCAT-Testungen wichtig
• Risikofaktoren: hohe Schlagfrequenz, mangelhafte defensive Fähigkeiten, vorbestehende Symptombelastung, unzureichende Regenerationszeiten

3. Hand- und Handgelenksverletzungen

• Kapselverletzungen (boxer-knuckel)
• Sehnenansatzläsionen (carpal-bossing)
• Mittelhandknochenfrakturen (Boxer’s fracture)
• Bänderverletzungen und Sprain des Handgelenks
• Ursache: hohe Schlagzahl + dünneres olympisches Bandagieren im Training

4. Schulterverletzungen

• Rotatorenmanschettenirritationen, akute vordere und dorsale (Sub)-Luxationen, SLAP-Läsionen durch explosive Schlagrotation

5. Untere Extremität

• Sprunggelenks- und Kniegeleksdistorsionen, besonders beim Ausweichen und Richtungswechseln
• Muskelverletzungen (Waden, Oberschenkel) im intensiven Wettkampfblock

B.) Chronische Verletzungen / Überlastung

• Cervicothorakale Wirbelsäulenbeschwerden (statische Kampfhaltung)
• Schulterimpingement & Bizepssehnenprobleme
• Chronische Hand- und Fingerbeschwerden, v. a. bei hoher Trainingsdichte
• Psychische Belastungen (Gewichtsmanagement, Turnierstress) – zunehmend wissenschaftlich relevant

Präventionsmaßnahmen im olympischen Boxen

Prävention ist im Amateurboxen ist ein wesentlicher und multidimensionaler Ansatz.

• Medizinisch-regulatorische PräventionKampf- und Trainingsfreigaben
• Strenge Sparringsregulierung, besonders bei Nachwuchs
• Nach Kopfverletzungen: international üblich Stand-down periods (mind. 30 Tage), häufig Return-to-Box-Protokolle, analog zu Return-to-Play

Gewichtsklassenmanagement

• Progressive Weight Making statt Rapid Weight Loss
• Monitoring von Hydratationsstatus, Körperzusammensetzung und Ernährungstherapie

Monitoring & Sportmedizin

• Regelmäßige neurokognitive Tests mit Baseline-SCAT, Balance-Tests, Sakkaden-Tracking sowie Reaktionszeitmessungen
• Erstellung von Datenbanken zur Dokumentation aller Trainings-, Sparrings- und Wettkampfverletzungen mit Risikoprofilerkennung je Athlet*in ist im Aufbau
• Regenerationsmanagement mit Abfragen der Schlafqualität, HRV, subjektive Belastungsfragebögen in Trainingslagern mit Laborbestimmungen obligat

Schutzmaterial

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Neben dem obligatorischen Tief- und individuell angepaßten Mundschutz wurde der Kopfschutz seit 1984 verpflichtend für alle Amateurboxer eingeführt und 2013 ausschließlich im männlichen Elite-Amateurbereich (Erwachsene, 19–40 Jahre) dann auch wieder abgeschafft. Bei den Sommerspielen 2016 in Rio traten erstmalig bei Olympia männliche Boxer ohne Kopfschutz an. Es wurde argumentierte, dass Boxen ohne Kopfschutz zu weniger Gehirnerschütterungen führen könne als mit Kopfschutz. Ein Grund dafür sei, dass mit Kopfschutz das Sichtfeld eingeschränkt wäre, Schläge später erkannt werden und den Kopf zu einem größeren „Ziel“ machen. Nach dem Weglassen des Kopfschutzes sank tatsächlich in einigen Studien die Rate von Kampfabbrüchen wegen schweren Kopftreffern („head blows“) signifikant, gleichzeitig stieg aber auch die Rate von Cuts und und oberflächliche Verletzungen im Gesicht.

Praktische Konsequenz: Für Nachwuchs, Techniktraining und bestimmte Leistungsklassen bleibt der Kopfschutz sinnvoll; im Wettkampfbereich wird zunehmend individualisiert entschieden. Entscheidend ist, dass Kopfschutz niemals Training in Situationen ersetzt, die defensives Verhalten, Reaktionsfähigkeit und Risikowahrnehmung schulen.

Deshalb heißt Prävention auch Technik vor Equipment. Saubere Schlagtechnik, top ausgebildete defensive Fähigkeiten und ein stabiles Core- und Nackenmuskelkorsett reduzieren nachweislich die Belastung bei Kopftreffern.


DER AUTOR

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Dr. med. Mark Dorfmüller ist Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie und als leitender Orthopäde und Teamarzt des Deutschen Boxsport-Verbandes (DBV) seit 2000 tätig.