Weltweit bislang einmalig können in Deutschland seit Oktober 2020 ausgewählte Apps vom Arzt auf Rezept verordnet werden. Davon profitieren zuerst einmal die 74 Millionen gesetzlich versicherten Patienten. Grundlage dafür ist das „Digitale Versorgung Gesetz“ aus dem Jahr 2019, das die Entwicklung verschreibungsfähiger digitaler Gesundheitsanwendungen, kurz DiGa, ermöglicht.
Die ersten zugelassenen Apps behandeln die Themen Tinnitus, Angststörungen, Rücken-, Hüft- und Knieschmerzen. Weitere Anwendungen für die Behandlung eines erhöhten Blutdrucks, Diabetes, und Schlafstörungen befinden sich im Prozess der Zulassung.
Um verordnet werden zu können muss eine App einen komplexen Prüfprozess beim Bundesamt für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) in Bonn absolvieren. Der gesundheitliche Nutzen der App für den Patienten muss wissenschaftlich nachgewiesen werden. Das erfordert aussagekräftige Studien. Selbstverständlich müssen auch die Anforderungen des Datenschutz erfüllt sein. Zusätzlich wird verlangt, dass sich die Therapieempfehlungen der Apps mit dem Wissensfortschritt aktualisieren. In regelmäßigen Abständen muss deshalb ein Abgleich mit den aktuellen und für die App relevanten Leitlinien erfolgen.
Mit diesen hohen Auflagen soll der inzwischen nicht mehr zu überblickende Markt der Gesundheits-Apps für die Patienten gefiltert werden. Bei insgesamt über 100.000 Apps rund um die Themen Gesundheit und Training ist das sicherlich ein sinnvolles Vorgehen.
Vorteile für Patient und Arzt
Die Vorteile für den Patienten sind vielfältig. Er erhält eine medizinische Leistung im Gegenwert von einigen hundert Euro kostenfrei. Auf diese kann er unabhängig von Zeit und Ort 24/7 zurückgreifen. Es gibt Terminschwierigkeiten und keine Wartezeit. Unser Mobiltelefon haben wir beinahe immer zur Hand. Mit motivierenden und spielerischen Elementen können je nach App die Rituale und Verhaltensweisen des Patienten positiv beeinflusst werden. Der Begriff Gamification beschreibt diese Möglichkeit den Patienten vom „Müssen zum Wollen“ zu bewegen. Die Nutzung der App wird automatisch und ohne Mühen für den Patienten dokumentiert und diese Daten kann er dem behandelnden Arzt zur Steuerung der Therapie vorlegen. Die Hoheit über diese Daten hat der Patient.
Auch für den Arzt sind digitale Gesundheitsanwendungen interessant. Im Allgemeinen ist der Kassenarzt bei gesetzlich versicherten Patienten durch Budgets in seinem Verschreibungsverhalten limitiert. Verschrieben werden soll, was medizinisch „ausreichend“ und wirtschaftlich notwendig ist – also keineswegs das was für ein optimales Behandlungsergebnis „möglich“ ist.
Überschreitet der Arzt sein Budget, zum Beispiel indem er überdurchschnittlich viel Physiotherapie verschreibt, droht ihm der Regress. Das bedeutet, dass die Krankenkasse ihn für die aus ihrer Sicht zu häufigen Verschreibungen zur Kasse bittet. Faktisch bezahlt dann der Arzt einen Teil der Therapien, die er seinen Patienten selbst verordnet hat. Die App auf Rezept ist vorerst nicht limitiert. Der Arzt kann also endlich einmal medizinisch entscheiden, was und wieviel er verordnen möchte.
Wie läuft das ab?
Ein Patient kann eine App auf zwei Wegen erhalten. Entweder per Rezept von seinem Arzt direkt, also genauso wie bei jedem anderen Rezept, oder direkt über seine Krankenkasse. Ist eine der zugelassenen Diagnosen an Rücken, Hüfte und Knie schon gestellt, ist auch ein Bezug der notwendigen Zugangsdaten für die relevante App direkt beim Versicherer möglich. Den detaillierten Ablauf erklärt die Seite www.DiGa.de .
Gefährden Apps die Arbeit von Trainern oder Therapeuten?
Nein! Apps können eine sinnvolle Ergänzung darstellen. Ob es um erhöhten Blutdruck, Angststörungen oder eben Rückenschmerzen geht, eine Therapie oder Prävention ist Erkrankungen ist eine dauerhafte Aufgabe. Die seit Jahrzehnten bekannte Budgetierung im Gesundheitssystem verhindert bislang eine solche Weitsicht. Deshalb ist es gut, dass jetzt die digitalen Gesundheitsanwendungen ergänzend eingesetzt werden können. Ersetzen können und sollen sie weder Trainer, noch Therapeuten.
Man kann nicht managen, was man nicht mißt
Die notwendigen Massnahmen bei Volkskrankheiten wie hohem Blutdruck, Diabetes, Fettstoffwechselstörungen und Rückenschmerzen erfordern meistens eine Veränderung im Lebensstil der Betroffenen. Dazu ist es wichtig sich diesen zu visualisieren – als Therapeut und vor allem als Patient. Apps können hervorragend dazu beitragen, sich seinen eigenen Lebensstil zu verdeutlichen und ihn dann bei Bedarf aktiv zu verändern. So können wir uns „unbewußt“ ungünstige Verhaltensmuster im ersten Schritt „bewußt“ machen. Im nächsten Schritt werden günstige Verhaltensweisen „bewußt“ eingeübt, bevor sie im besten Fall „unbewußt“ fortgesetzt werden.
Am Beispiel von Vivira haben wir in den letzten Jahren über 50.000 Nutzerdaten auswerten können. Wir konnten feststellen, dass sich die Schmerzen der Patienten verringert haben, sie weniger Schmerzmittel einnehmen mussten, weniger Tage arbeitsunfähig waren und sich zumindest zum Teil wieder mehr im Alltag bewegten.
Die Daten der Nutzer haben mir als wissenschaftlichem Leiter sehr geholfen das Trainingskonzept von Vivira zu optimieren. Im Praxis- oder Klinikalltag ist es unmöglich solche Datenmengen binnen kurzer Zeit zu erfassen und auszuwerten. Mit Hilfe der Daten aber kann ich sehr schnell erkennen, was im Alltag genutzt und umgesetzt wird und was nicht. Jeder Trainer weiß, dass ein vermeintlich perfektes Trainingsprogramm rein gar nichts bringt, wenn der Patient oder Sportler es nicht umsetzt. In diesem können Apps dem Patienten helfen und Trainer, Therapeuten und Ärzte in ihrer Arbeit unterstützen.
Weitere Infos
Autor
Dr. med. Markus Klingenberg ist Facharzt für Orthopädie/Unfallchirurgie, Sportmedizin, Manuelle Medizin, Notfallmedizin. Er ist in einer Gemeinschaftspraxis in Bonn niedergelassen.
Seit 2016 ist er Leiter des wissenschaftlichen Beirats von Vivira Health Lab. Vivira ist die erste verschreibungsfähige App zur Therapie bei Schmerzen des Rückens, Knie- und Hüftgelenk. Dr. med. Klingenberg hat das zugrunde liegende Trainings- und Therapiekonzept entwickelt.
Dr. Klingenberg schreibt als Experte regelmäßig Artikel für verschiedene Fachzeitschriften. Er ist auch Autor des Buches „Return to Sport -Funktionelles Training nach Sportverletzungen“.