Gesellschaft für Orthopädisch-Traumatologische Sportmedizin

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Die Entwicklung der operativen Behandlung der “Knie-Binnenläsionen”

Kniebinnenläsion ist ein vager Begriff, welcher die frühere, auch heute nicht vollständig ausgeräumte diagnostische Unsicherheit mitklingen lässt. Er bedeutete nur, dass im Innern des Kniegelenks etwas verletzt war. Was, war die schwierig zu beantwortende Frage. War es eine Knorpelabsprengung eines Teils der Gelenkoberflächen? War es ein eingerissener Meniskus, der einen sperrenden Lappen bildete, eine Blockierung durch einen völlig abgerissenen Meniskus der Innen- oder gar auch der Aussenseite? War es ein Durchriss des vorderen oder des hinteren Kreuzbandes oder war es eine Kombinationsverletzung von zweien dieser Möglichkeiten, oder gar eine maximale Kombination mit Verletzung aller dieser genannten Komponenten? War die Patella aus ihrem Lager gesprungen und unter Abscherung von Fragmenten der Knorpeloberfläche wieder an ihrem Ort eingerastet? Oder war gar die Gelenkoberfläche der Tibia eingebrochen?

Die am einfachsten zu prüfenden Seitenbänder und die Gelenkkapsel galten bei Binnenläsionen jeweils als intakt.

Ohne Spezialröntgenbilder wie Kontrast-Arthrographie oder Computer-Tomographie CT auch in drei Dimensionen, ohne später dann die Magnetresonanz-Tomographie MRT auch mit möglicher Kontrastmittelfüllung sowie vor allem ohne die heute so wesentlich gewordene Arthroskopie waren präzise Diagnosen im Detail nicht leicht zu erstellen. Täuschungen und Fehldiagnosen waren häufig. Oftmals mussten auch sogenannte Probe-Arthrotomien (probeweise operative Gelenkeröffnungen) gemacht werden, damit man unter der richtigen Diagnose weiterbehandeln konnte.

Die Kenntnisse, welche die heutige Diagnostik und Behandlung ermöglichen, sind in kleineren und grösseren Schritten in den letzten 100, ja bis 250 Jahren zusammengetragen worden. Wohl hatte man schon im Altertum bei Griechen und Römern (z.B. Galen im 2.Jh. n.Chr.) die Kreuzbänder im Knie gekannt und Farin in Paris hatte schon 1752 in seiner “Desmographie” (Beschreibung der Gelenkbänder) ihre anatomische Position und Faserverteilung genau beschrieben. Aber es dauerte lange, bis die entsprechende klinische Bedeutung einschlagend klar wurde. Die verschiedenen Kriege haben jeweils die Entwicklung auf diesem Gebiet verzögert, während nun in den letzten vier Dekaden der Sport mit seinen häufigen Verletzungen das Erlangen von Erkenntnissen stark gefördert hat.

Nun zurück zu den wichtigsten Schritten der Entwicklung:

Von 1845 bis 1880 gab es wesentliche klinische Erkenntnisse. So beschrieb Amédée Bonnet, Lyon, 1845 die Ruptur des vorderen Kreuzbandes, Georges Noulis, Paris, 1875 den vorderen Kreuzbandinsuffizienz-Test (“Lachman Test”) und Paul Segond, Paris, 1879 das für die vordere Kreuzbandruptur pathognomische sogenannte “Segond-Fragment”, das Band-Ausrissfragment im anterolateralen Abschnitt des Kniegelenks. Segond zeigte damit, dass in solchen Fällen die Bandverletzungen des Knies immer spezifische Komplexläsionen sind. (Fast 100 Jahre später, 1973, beschreibt Don O’Donoghue im ähnlichen Sinne die systembedingte Kombinationsverletzung der Innenseite mit Riss des vorderen Kreuzbandes, des Innenbandes und Abriss des Meniskus als “unhappy triad”).

Danach folgten Ende des 19.Jh. Dezennien der operativtechnischen Entwicklung mit Umwegen und Fehlschlägen zum Teil aus materiellen Gründen, zum Teil mangels weichteilbiomechanischen Kenntnissen vor allem der Kniebänder. Es wurden zwar schon vor über 100 Jahren abgerissene Menisken nicht nur excidiert, sondern auch wieder angenäht (Th. Annandale, 1885) sowie auch vordere Kreuzbänder genäht ( z.B. Mayo Robson, Leeds 1895). Es wurden auch Kreuzbänder verstärkt und sogar ganz ersetzt. Schon

1903 nimmt Fritz Lange, München, Seidenfäden, auch als Kordel geflochten, zur Verstärkung und als Ersatz für das VKB.

1917 beschreibt Ernest Hey-Groves, Bristol, seine dreifache Kombinationsplastik aus einem iliotibialen Tractusstreifen bei vorderer Kreuzband-Insuffizienz als VKB-Ersatz mit gleichzeitiger anterolateraler und anteromedialer Seitenband-Ersatzplastik.

1928 macht Eugen Bircher, Aarau CH erste Arthroskopien mit Endoskop.

1935 ersetzt der Deutsche A. Wittek das vordere Kreuzband mit Patellarsehnen-Transplantat.

1936 beschreibt Ivar Palmer, Stockholm, den Pivotshift als wichtiges pathophysiologisches Phänomen der vorderen Kreuzband-Insuffizienz.

1939 macht Henry Macey, Rochester, VKB-Rekonstruktionen mit distal gestieltem Semitendinosus.

1950 beschreibt K. Lindemann aus Deutschland seine aktiv-passive Semitendinosus-Ersatzoperation und führt die distal abgetrennte Sehne von hinten oben durchs Kniezentrum parallel zum VKB in das Tibiaplateau.

1963 publiziert Kenneth Jones, USA, seinen (kinematisch völlig fehlplatzierten) VKB-Ersatz mit dem distal gestielten Lig. Patellae.

1966 nimmt Helmut Brückner, Deutschland, das mittlere Drittel des Lig. patellae als freies Transplantat.

1967 publizieren Marcel Lemaire, Paris, (anterolateral) und Slocum und Larson (anteromedial) die extraarticulären Ersatzplastiken.

1972 kommt der Pivot shift durch McIntosh, Toronto, erneut zur allgemeinen Diskussion.

1974 bringen Alfred Menschik, Wien, und A. Huson, Belgien, die wichtige Kniekinematik der überschlagenen Viergelenkkette nach den Brüdern Weber 1836 (!) und H. Strasser 1917 wieder zur Kenntnis. Diese kinematischen Gesetze waren die im eigentlichen Sinne massgebend für das Verständnis “isometrischer”, angenähert isometrischer, anatomometrischer Bedingungen für die normale Funktion der gelenkführenden Kreuzbänder und aller Kniebänder überhaupt. Damit wurde auch die Grundlage für die funktionelle Nachbehandlung geschaffen. (W. Müller: Das Knie. Form Funktion und ligamentäre Wiederherstellung 1982)

In derselben siebziger Dekade kam zugleich auch der Durchbruch der Arthroskopie (M. Watanabe, Japan, 1954 und 1968 bis 1974, Robert Jackson 1972/74 und H. R. Henche 1974/78), welche nun in den letzten 25 Jahren eine überwältigende technische Entwicklung durchgemacht hat, auf die ich hier aber nicht weiter eingehe.

Fasziniert von diesen neuen Instrumentarien und Techniken konzentrierte man sich zu stark auf die Anwendung dieser neuen Methoden und missachtete oft die anatomischen Individualitäten der Kniegelenke, die man unbedingt berücksichtigen muss. Deswegen führten zu viele Bohrtunnels nicht in den anatomisch richtigen Ansatzbereich der Kreuzbänder. Die Transplantate lagen dann auch nicht korrekt anatomometrisch und konnten funktionell mittel- und langfristig nicht bestehen. Dies führte zu einer erheblichen Zunahme der Versagerquote der VKB-Ersatzoperationen überhaupt.

Weiter verleitete diese Technik auch zur rein intraarticulären Beurteilung des Kniegelenks. Bewährte, nicht kostspielige und einfache praeoperativ diagnostische Untersuchungstechniken wurden/werden vernachlässigt. Ebenso sind viele periphere Läsionen der Kapsel und Bänder als Läsionen der wichtigen Sekundärstabilisatoren unterschätzt worden. Dies hat wiederum in manchen Fällen zu einer Rezidiv-Instabilität geführt, weil das Kreuzband im Zentralpfeiler (auf sich allein gestellt) der Beanspruchung ohne die Mithilfe der peripheren Sekundärstabilisatoren nicht standhalten konnte.

Nachdem die Entwicklung der operativen Therapie des Kniegelenks sich nun über 100 Jahre mit einem Auf und Ab mehrfach im Kreise gedreht hat, nämlich von der Naht der Kreuzbänder im Zentrum allein mit ungenügendem Erfolg, zur Refixation der peripheren sekundär stabilisierenden Bänder allein, zur Dreifachplastik, aber ohne die nötigen weichteilbiomechanischen Kenntnisse, dann zum Zentralpfeiler-Ersatz mit Sehnen und wiederum in die Peripherie mit den extraarticulären Plastiken, ohne den Zentralpfeiler anzugehen, dann zu den aufwendigen, aber letztlich puncto Stabilität erfolgreichen offenen Global-Rekonstruktionen (der 70iger und 80iger Jahre) aussen und im Zentrum und seit dem grossen Erfolg des Arthroskops und der damit möglichen neuen operativen Techniken wieder zum vorderen Kreuzband allein ohne die nötige Berücksichtigung auch der peripheren Stabilisatoren, ist es nun an der Zeit, dass man die Indikationen für ein optimales Vorgehen findet, welches zentrale und dort, wo es nötig ist, periphere Rekonstruktionen ausgewogen miteinander verbindet.

Dabei bleibt festzuhalten, dass die beiden Menisken, obwohl in dieser Kurzfassung wenig berücksichtigt, für die periphere Stabilität, vor allem die Rotationsstabilität, von ganz ausserordentlicher Bedeutung sind und in alle Beurteilungen von Bänderstabilität miteinbezogen werden müssen.

Professor Dr. Werner Müller, Schweiz
Professor für Orthopädie der
Universität Basel

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