Gesellschaft für Orthopädisch-Traumatologische Sportmedizin

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Kunstturnen: Dynamik, Ästhetik, Kraft

Kunstturnen zählt zu den technisch-akrobatischen Sportarten und ist geprägt von Dynamik, Ästhetik und Kraft. Aber auch spektakuläre Darbietungen, die die Grenzen des Möglichen zu überschreiten scheinen, sind eine Besonderheit. Um Übungen in Perfektion zu präsentieren bedarf es vieler Jahre sehr intensiven Trainings, insbesondere einer hohen Anzahl von Belastungswiederholungen. Daher liegen die Trainingsumfänge im Spitzenbereich der Senioren im Durchschnitt bei 24,5 und bei den Junioren bei 23,6 Wochenstunden (Min 18 und Max 32). Dadurch ergeben sich natürlich hohe Belastungen und Beanspruchungen für den Stütz- und Bewegungsapparat sowie ein vermehrtes Potential für Verletzungen und Überlastungsschäden.

Dennoch liegt das Kunstturnen bei großen epidemiologischen Untersuchungen im Vergleich mit zahlreichen anderen Sportarten hinsichtlich absoluter und relativer Verletzungshäufigkeiten im unteren Mittelfeld. Ein Grund dafür liegt m.E. im Anforderungsprofil mit einer optimalen Ausprägung aller motorischen und psychischen Grundeigenschaften (Kraft, Kraftausdauer, Beweglichkeit, Schnelligkeit, motorische Lernfähigkeit, Bewegungsgedächtnis, Bewegungspräzision, Bewegungsadaption, psychodynamische Fähigkeit, Kognition, Koordination und Konzentration). Diese werden von klein an, insbesondere in der prägenden Phase zwischen dem 6. und 12. Lebensjahr erlernt und besonders ausgebildet. Neben diesen körperlichen und psychischen Voraussetzungen sind auch die technischen Grundlagen von entscheidender Bedeutung.

Aufgrund der hohen Trainingsintensität wirken z. T. große mechanische Belastungen (alle äußeren und inneren Kräfte, die am Bewegungsapparat angreifen und auf biologische Strukturen einwirken). Sie entstehen durch Einwirkung diverser Kräfte. Des weiteren kommt es zu Beanspruchungen (die Art und Weise, wie eine äußere mechanische Kraft auf eine biologische Struktur wirkt). Das bedeutet, dass eine vergleichsweise geringe mechanische Belastung trotzdem zu einer großen Beanspruchung führen kann. Hierbei sind zu nennen:

Ungünstige Gelenkstellung, Überschreiten anatomischer Grenzen, diverse funktionelle Defizite, schlechte Bewegungsausführung.

Besondere biomechanische Aspekte ergeben sich durch die mechanischen Belastungen

(hohe passive Impact-Kräfte und aktive Kräfte bei Sprüngen und Landungen, Zugbelastungen durch Beschleunigungs- und Zentrifugalkräfte auf die oberen Extremitäten an Ringen und Reck, Bodenreaktionskräfte von bis zu 12–15  G bei Landung vom Reck, Kompressions-, Torsions- und Scherkräfte auf die Gelenke der oberen Extremitäten bis zum zwei- bis dreifachen des Körpergewichtes, v.a. am Pauschenpferd, schnelle und hohe Kraftanstiege, kurze Belastungszeiten von 100–300 ms, hochfrequente Vibrationen an Ringe-Gerüst und Barrenholmen.

Bei Verletzungen (einmaliges akutes Trauma) und Überlastungsschäden (repetitive Mikrotraumatisierungen) können als Folge Strukturschädigungen entstehen.

Bei einer eigenen Untersuchung der Jahre 2015 – 2020 bei 91 Bundeskaderathleten (57 Junioren im Alter von 15 -18 Jahren) und 34 Senioren (Alter > 18 Jahre) kam es zu insgesamt  110 Verletzungen (Junioren 51, Senioren 59). Die individuelle Verletzungshäufigkeit betrug somit 1,2 Verletzungen in einem Zeitraum von 6 Jahren (Junioren 0,9/Senioren 1,7). Etwas höher fiel die Zahl von 152 Überlastungsschäden aus (Junioren 93, Senioren 59) mit einer individuellen Häufigkeit in 6 Jahren von 1,7 (Junioren 1,6/Senioren 1,7).

Innerhalb des beobachteten Zeitraums blieb keiner der insgesamt 91 Turner von Verletzungen und/oder Überlastungsschäden verschont. Dies zeigt, dass bei der Sportart Turnen doch ein hohes Verletzungs- und Schädigungspotenzial besteht und daher regelmäßige und permanente Präventionsmaßnahmen eine herausragende Bedeutung haben.

Akute Verletzungen

Untere Extremitäten

Bei den Verletzungen liegt der Anteil von Sprunggelenkverletzungen mit 30 % (Junioren 14,5 % und Senioren 15,5 %) am höchsten, gefolgt von Knieverletzungen mit 16,4%. Der Vergleich mit eigenen früheren Untersuchungen ergibt für die Jahre 2015 – 2020 eine deutlich zunehmende Tendenz derartiger  Verletzungen.

Obere Extremitäten

An den Handgelenken treten in erster Linie Diskusläsionen am Pauschenpferd auf, gelenknahe Unterarmfrakturen, sog. Grip Lock Injuries und Kapsel-Band-Verletzungen der Handwurzelgelenke sind typische, aber sehr seltene Verletzungen am Reck durch Hängenbleiben mit den Reckriemchen. Frakturen und Luxationen des Ellenbogens entstehen fast ausschließlich durch Stürze am oder vom Gerät als Hyperextensionstrauma kombiniert mit Varus- oder Valgusstress. Am Barren kommen typischerweise Abrissfrakturen des Proc. coronoideus bei Stürzen auf die im Ellenbogen gebeugten Oberarme vor.

Finger- und Handverletzungen liegen bei einem Anteil von 20 % (Junioren 10,9 % und Senioren 9,1 %), die fast immer durch Vergreifen am Pauschenpferd und Barren aufgetreten waren. Die Schultergelenke sind im Gerätturnen insbesondere an den Ringen und am Reck hohen Belastungen und Beanspruchungen ausgesetzt. Umso erstaunlicher ist es, dass die Zahl der Verletzungen mit 8,1%, im Gegensatz zu den Überlastungsschäden, gering ist. Verletzungen der Schultern entstehen meist bei misslungenen Flugelementen am Reck bei dem Versuch auf dem Rücken zu landen, und  – wenn das Eindrehen nicht vollständig gelingt  – der Sturz auf der Seite endet.

Wirbelsäule

Schwere Wirbelsäulenverletzungen kommen selten vor. Jedoch können Hyperflexions- oder Hyperextensionstraumen der Wirbelsäule bei Sturz auf den Kopf oder Nacken schwere Verletzungen der unteren HWS-Segmente mit dann meist bleibenden Schäden verursachen. Leichtere HWS-Traumen können im Wiederholungsfall relativ häufig typischerweise zu frühzeitig degenerativen Veränderungen der Wirbelgelenke, Bandscheiben oder der Neuroforamina führen. Ursächlich sind hierfür in erster Linie Stürze vom Gerät, am Boden oder Sprungtisch.

 

Überlastungsschäden

Bei insgesamt 152 Überlastungsschäden dominieren Schädigungen der Schulter mit 34,9 % (Junioren 17,8 % und Senioren 17,1 %). Sie entstehen infolge rezidivierender Mikrotraumen aufgrund chronischer Über- oder Fehlbelastung. Der Vergleich mit früheren eigenen Untersuchungen zeigt eine erhebliche Zunahme insbesondere in den letzten Jahren und hier vor allem im Juniorenbereich. Der Anteil der Probleme an den Handgelenken zeigt mit 15,1 % (Junioren 9,8 % und Senioren 5,3 %) für die letzten 6 Jahre eher eine rückläufige Tendenz. Bei den Junioren sind es vor allem wachstumsbedingte Knorpelverknöcherungsstörungen der Epiphysenfugen, bei den Senioren Läsionen des Diskus sowie Knorpelschäden. 17,1 % der Schädigungen betreffen die Wirbelsäule (Junioren 10,5 % und Senioren 6,6 %) und sind in erster Linie Wirbelkörperaufbaustörungen im thorakolumbalen Übergang und LWS bei Jugendlichen sowie bei 7 Turnern Stressreaktionen der unteren Wirbelbögen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Untere Extremitäten

Das Hyperextensions-Pronations-Trauma mit bone bruises im Talus bei unvollständiger Breitenachsendrehung mit Landung in Vorlage (Gegenstellen der Füße) ist einer der am häufigsten vorkommenden Schädigungsmechanismen im Gerätturnen, wenn es  – was relativ häufig vorkommt  – wiederholt erfolgt.

 

Obere Extremitäten

Insgesamt sind die oberen Extremitäten aufgrund hoher Belastungen und Beanspruchungen (funktionell-anatomisch) im Gegensatz zu Verletzungen in fast zwei Dritteln der Fälle (62,5 %) betroffen. Die Hälfte aller Schädigungen betrifft dabei die Schulter- und Handgelenke. Der Rest verteilt sich etwa zu gleichen Teilen auf die übrigen Körperregionen.

Am Schultergelenk sind Tendinitiden, insbesondere der Supraspinatussehne und der langen Bizepssehne, vorherrschend. Relativ häufig traten Teilrupturen der Supraspinatussehne sowie SLAP-Läsionen auf. Operativ versorgt wurden deswegen im Beobachtungszeitraum von 2015–2020 zehn Turner (zwei Junioren und acht Senioren). Ein Turner musste sich aufgrund der Schädigung einer Operation beider Schultern unterziehen. Überlastungsprobleme an den Ellenbogengelenken treten oft als Epicondylitis radialis et ulnaris oder selten in Form von Knorpelschäden oder Osteochondrosis dissecans des Capitulum humeri (Morbus Panner) auf. Dabei entstehen die größten Beanspruchungen beim Kreuzhang und anderen statisch-dynamischen Kraftelementen über meist hyperextendierte Ellenbogengelenke an den Ringen.

Die Handgelenke stellen neben den Schultergelenken im Kunstturnen ein weiteres häufiges, mit Trainingseinschränkungen und Beeinträchtigungen verbundenes Problem dar. Hohe Stützbelastungen am Pauschenpferd (vor allem im Flachstütz) kombiniert mit Rotations- und Scherkräften führen oft zu Knorpelbelastungen unterschiedlicher Schwere. Eine typische Belastungsfolge ist die Degeneration oder Läsion des Discus triangularis nach häufig geturnten Übungsteilen am Pauschenpferd, die als Wendeschwung im Stütz über einen Arm erfolgen.

 

Wirbelsäule

In den vergangenen Jahren wurde mehrfach über das gehäufte Auftreten von Spondylolysen und -listhesen im Gerätturnen berichtet. Unsere aktuelle Analyse zeigt in 9,5% Bogenwurzelödeme der unteren LWS,  in 5,4 % Spondylolysen,  und 2,7 % Spondylolisthesen bei 74 untersuchten Turnern. Bei einer angenommenen Prävalenz von 2-5% in der Normalbevölkerung  liegen die aktuellen Werte bei Turnern somit deutlich  höher. Hierbei ist aber sicher zu berücksichtigen ist, dass es sich um ein selektiertes Patientengut und nicht um eine Längsschnittstudie handelt.

Recht häufig führten Hypermobilitäten und Segmentlockerungen der unteren LWS zu Beschwerden, wobei hier kein bestimmtes Gerät oder bestimmte Übungsteile als belastungsspezifisch anzusehen sind, sondern vielmehr diverse funktionelle Einschränkungen und Über- bzw. Fehlbelastungen.

Bei jugendlichen Turnern sind überwiegend Knorpelverknöcherungsstörungen als Ursache für zwangsläufige Trainingseinschränkungen oder Trainingspausen verantwortlich. Insgesamt traten im genannten Zeitraum 49 Knorpelverknöcherungsstörungen auf. 22,4% betreffen die Epiphysen des Handgelenks, jeweils 16,3% die thorakale/lumbale Wirbelsäule und die Apophyse der Tuberositas tibiae sowie 12,2% die Apophyse des Olekranons. Hier hat sich im Vergleich zu unseren früheren Untersuchungen an der Verteilung auf die verschiedenen Körperregionen nicht viel verändert.

An der Wirbelsäule handelt es sich in erster Linie um Veränderungen an den ventralen Randleistenkernen der unteren Thorakal- und oberen Lumbalsegmente, wobei eine oder meist mehrere Wirbelkörper betroffen sind. In fortgeschrittenen Fällen sehen wir häufig

Verbreiterungen der Wirbelkörper in der Sagittalen, mangelhafte Entwicklung der Wirbelkörperhöhe ventral oder regelrechte Kantendefekte mit Ausbildung von Keilwirbeln.

Zur Vermeidung bzw. Reduzierung sportartspezifischer Verletzungen bzw. Überlastungsschäden sind daher wichtig:

Orthopädische und internistische Eingangsuntersuchungen zu Beginn des Leistungssports und jährliche Kontrollen

Körperliche, technische, koordinative und spezielle ­Bewegungsausbildung (Voraussetzungstraining)

Mitarbeit von in der Sportart qualifiziertem Personal (Trainer, Physiotherapeuten, Ärzte)

Ganzkörpergymnastik, Umsetzen von Präventivprogrammen

Belastungsreduktion in sensiblen puberalen Phasen

Langsamer Belastungsaufbau nach Verletzungen oder Trainingspausen

Ausreichende Aufwärmphasen zu Beginn des Trainings (Vorbereitungstraining) und Cool-down am Ende des Trainings

Rechtzeitiges Einlegen von Trainingspausen bei Ermüdung und/oder Überlastung

Vorsorge (einwandfreie Trainings- und Wettkampfausrüstung) und Nachsorge (Massagen, Sauna, heiße Bäder, Eisbäder)

Behandlung von Bagatellverletzungen sofort und gezielt

Ausreichende Kompensations- und Regenerationsphasen

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DER AUTOR:

Dr. Hans-Peter Boschert ist Allgemeinmediziner, Sportmediziner, Osteopath und Ernährungsbeauftragter Arzt der DAEM in der Praxis “Die SportOrthopäden”, Freiburg. Er ist Verbandsarzt des Deutschen Turnerbund, Bereich Kunstturnen männlich seit 1990. Boschert nahm an den Olympischen Spielen Sydney 2000, Athen 2004, Peking 2008, London 2012 und Rio 2016 sowie an den jährlich stattfindenden Welt- und Europameisterschaften seit 1994 teil.