Missbrauch und Belästigung im sportlichen Umfeld sind beunruhigende Realitäten, die häufig unsichtbar bleiben. Die Folgen von Missbrauch im Sport können vielfältig und verheerend sein. Physischer ebenso wie psychischer Missbrauch können zu Gesundheitsproblemen wie Selbstwertverlust, Depressionen, posttraumatischen Belastungsstörungen, destruktivem Essverhalten und Suizidgedanken führen. Sexueller Missbrauch, der oft noch weniger offensichtlich ist, stellt ein Trauma mit tiefgreifenden Folgen dar und führt zu Beeinträchtigungen im privaten und beruflichen Leben der Betroffenen.
Die daraus resultierende Atmosphäre der Angst und des Misstrauens beeinträchtig nicht nur die Leistung der Athleten, sondern auch ihren Wunsch, eine sportliche Karriere fortzusetzen. Zum Schutz der Athleten und um dem Verlust sportlicher Talente vorzubeugen, ist es daher entscheidend, dass medizinisches Fachpersonal in der Lage ist, Warnsignale zu erkennen und angemessen darauf zu reagieren.
Eine kürzlich von Mountjoy et al. veröffentlichte Studie, die in Zusammenarbeit mit dem französischsprachigen Forschungsnetzwerk des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) ReFORM (Réseau Francophone Olympique de la Recherche en Médecine du Sport) durchgeführt wurde, beleuchtet das Thema umfassend [1]. In einer Befragung von 406 Sportmedizinern aus 115 Ländern wurde das Ausmaß gefährlicher Verhaltensweisen, die insbesondere im Hochleistungssport oft ignoriert oder schlecht gehandhabt werden, erfasst. Das Ziel der Arbeit bestand darin, die Fähigkeiten von Ärzten im Erkennen und Melden von Missbrauchs- und Belästigungsfällen zu bewerten. Die Ergebnisse machen alarmierende Defizite in der Ausbildung und den zur Verfügung stehenden Ressourcen sichtbar, um solche Gegebenheiten effektiv zu bewältigen, und zeigen damit aktuelle Lücken im Schutz von Athleten auf (Abbildung 1).
Häufig auftretende, aber verharmloste gefährliche Verhaltensweisen
Missbräuchliches Verhalten ist weit verbreitet und wurde in verschiedenen Zusammenhängen von Sportmedizinern beobachtet. So gaben 52 % der Befragten an, übermäßige Kritik von Trainern an den Leistungen der Athleten wahrgenommen zu haben. Dieses Verhalten mag auf den ersten Blick harmlos erscheinen, kann langfristig jedoch das Selbstvertrauen und die Selbstachtung der Athleten beeinträchtigen. Darüber hinaus beobachteten 43 % der Befragten Situationen, in denen ein Trainer einen Athleten drängte, trotz einer Verletzung zu trainieren oder an einem Wettkampf teilzunehmen. Ebenso viele Befragte berichteten von physischen Übergriffen wie Schlagen oder Schubsen von Athleten.
Öffentliche Demütigungen, sei es durch Trainer oder durch andere Athleten, sind ebenfalls weit verbreitet und wurden von 42 % der Befragten wahrgenommen. Ein weiterer besorgniserregender Aspekt ist die gezielte Isolation von Athleten: Fast 38 % der Mediziner gaben an, absichtliche Ausgrenzungen innerhalb von Athletengruppen beobachtet zu haben. Diese Taktik kann schwerwiegende psychologische Folgen wie Depressionen, Isolation oder das Gefühl der Unzulänglichkeit nach sich ziehen.
Gravierende Defizite in der Ausbildung und den verfügbaren Ressourcen für medizinische Fachkräfte
Viele Sportmediziner fühlen sich bei der Bewältigung dieser Probleme überfordert. Rund 26 % der befragten Ärzte wissen nicht, wo Fälle von Missbrauch und Belästigung zu melden sind, und 58 % kennen den zuständigen Verantwortlichen in ihrem Sportverband nicht. Diese Unkenntnis ist besorgniserregend, da sie auf ein mangelndes institutionelles Bewusstsein für die verfügbaren Schutzvorkehrungen hinweist. Darüber hinaus geben 58 % der Ärzte an, keine adäquate Ausbildung zur Erkennung und Behandlung von Missbrauchs- und Belästigungsfällen erhalten zu haben.
Der dringende Bedarf an Möglichkeiten zur Kompetenzentwicklung wird durch das Interesse von 85 % der Befragten an Fortbildungen in diesem Bereich unterstrichen. Demnach erkennen Sportmediziner ihre Rolle in der Prävention und Bewältigung missbräuchlicher Verhaltensweisen und nehmen die bestehenden Lücken in ihrer Kompetenz und Ausbildung wahr.
Abbildung 1: Infografik mit den wichtigsten Ergebnissen der Studie von Mountjoy et al. [1,4]. Modifiziert mit Genehmigung des BJSM.
Hemmschwellen bei der Meldung: Angst, Privatsphäre und sozialer Druck
Sportmediziner stehen in der Verantwortung beobachtete oder vermutete Fälle von Missbrauch und Belästigung zu melden. Dies ist Teil ihrer Rolle in einem multidisziplinären Betreuungsteam zur Gesundheitsversorgung und Leistungssteigerung. Dennoch haben viele Hemmungen, solche Fälle zu melden. Eines der Hauptprobleme ist die Angst vor einer Verletzung der Privatsphäre der Athleten und der ärztlichen Schweigepflicht. Das stellt ein komplexes ethisches Dilemma im Bereich der Sportmedizin dar. Hinzu kommen Bedenken hinsichtlich der persönlichen und beruflichen Folgen einer Meldung, einschließlich der Angst vor Vergeltungsmaßnahmen seitens einflussreicher Trainer oder des Sportverbandes selbst.
Die Studie von Mountjoy et al. [1] hebt die Notwendigkeit hervor, klar definierte Protokolle mit rechtlichen und ethischen Rahmenbedingungen zur Aufhebung der Schweigepflicht bei Verdacht auf Missbrauch zu entwickeln. In diesem Fall könnten Ärzte ohne Angst vor rechtlichen oder beruflichen Konsequenzen handeln.
Ein weiteres Hindernis besteht in der mangelnden Klarheit über die Abläufe. Viele Ärzte wissen nicht, wie sie einen Verdachtsfall handhaben sollen und befürchten die Situation falsch einzuschätzen. Diese institutionelle Intransparenz fördert eine „Praxis des Schweigens“, die das Wohlbefinden und die Sicherheit der Athleten gefährdet.
Nicht ausgeschöpfte Möglichkeiten wissenschaftlicher Gesellschaften und Sportverbände
Internationale medizinische Gesellschaften haben bereits wertvolle Richtlinien zur Prävention und Bekämpfung von Missbrauch im Sport entwickelt. Die Canadian Academy of Sport and Exercise Medicine (CASEM) empfiehlt einen klaren Handlungsrahmen zur Erkennung von Missbrauchsfällen, der von klinischen Anzeichen bis zu zu ergreifenden Maßnahmen bei einer Offenlegung reicht. Auch die American Medical Society for Sports Medicine (AMSSM) betont die Notwendigkeit interdisziplinärer Zusammenarbeit und unabhängiger organisatorischer Richtlinien zum Schutz der Athleten vor sexueller und psychischer Gewalt [2,3]. Die British Association of Sports & Exercise Medicine (BASEM) bietet Webinare, Podcasts und Online-Schulungen zu diesem Thema an. Darüber hinaus hat das IOC 2016 eine Konsenserklärung zu diesem Thema veröffentlicht und seit 2022 ein spezifisches Safeguarding-Officer-Zertifikat geschaffen, um medizinisches Fachpersonal besser zu schulen.
Dennoch werden diese Hilfsmittel laut der Studie von Mountjoy et al. [1] aufgrund mangelnder Sensibilisierung und Verbreitung kaum genutzt. Daher ist es von entscheidender Bedeutung, solche Maßnahmen gezielt zu fördern und zugänglich zu machen.
Stärkung der Kompetenzen für Schutzmaßnahmen in der Sportmedizin
Die Studie von Mountjoy et al. [1] hebt die Notwendigkeit hervor, Maßnahmen zum Schutz der Athleten in die Ausbildungsprogramme für Sportmediziner zu integrieren. Seit März 2024 erkennt die Europäische Union den Titel des Sportmediziners offiziell als eigenständige Fachrichtung an. Diese Anerkennung stellt einen wichtigen Schritt in der Professionalisierung der Sportmedizin dar und ebnet den Weg für eine bessere Definition der Verantwortlichkeiten und spezifischen Kompetenzen in diesem Bereich. Dazu gehört auch die Fähigkeit, Missbrauchsfälle zu erkennen und in Übereinstimmung mit internationalen Protokollen zu handeln, wobei sensibel mit dem Trauma umgegangen und unterschiedliche kulturelle Kontexte berücksichtigt werden müssen.
Damit diese Anerkennung konkrete Auswirkungen hat, müssen praktische Maßnahmen folgen. Dies umfasst den Aufbau eines Netzwerks zertifizierter Sportmediziner auf europäischer Ebene, die systematische Integration von Maßnahmen zur Kompetenzentwicklung in der Prävention und Behandlung solcher Gewalttaten in die Ausbildungsprogramme und die Entwicklung klarer Richtlinien zur Meldung von Missbrauchsfällen. Ebenso erscheint die Entwicklung internationaler Gesetzgebungen und spezifischer Verhaltenskodizes für die Sportmedizin unerlässlich, um die Sicherheit und das Wohlbefinden der Athleten zu gewährleisten.
Weiterführende Informationen
- Lehrstuhl für Sicherheit und Integrität im Sport der Universität Laval, Frankreich (Chaire de recherche Sécurité et intégrité en milieu sportif, SIMS):
- Bewertungsskalen: https://sims.chaire.ulaval.ca/en/scales/
- Webinare und Infografiken: https://sims.chaire.ulaval.ca/en/knowledge-mobilization/scientific-popularization-tools/
- Webinare und Infografiken der BASEM: https://basem.co.uk/sem-resources/harassment-in-sport/
- Webinar Safe Sport Allies: https://www.safesportallies.eu/safesportallies-webinar/
- Webinar Safe Sport der ReFORM (französisch): https://reform-sportscimed.org/webinaire-reform-sur-la-prevention-des-abus-dans-le-sport/
- IOC Safeguarding-Officer-Zertifikat: https://www.sportsoracle.com/course/ioc-certificate-safeguarding-officer-in-sport/
- Toolkit des US Center for Safe Sport: https://eptoolkit.uscenterforsafesport.org/
Abbildung 1: Infografik mit den wichtigsten Ergebnissen der Studie von Mountjoy et al. [1,4]. Modifiziert mit Genehmigung des BJSM. |
Referenzen
[1] Mountjoy M, Verhelle H, Murray A, Paynter A, Vertommen T, Finnoff JT, et al. #WhatWouldYouDo? A cross-sectional study of sports medicine physicians assessing their competency in managing harassment and abuse in sports. Br J Sports Med 2024. https://doi.org/10.1136/bjsports-2024-108210.
[2] Stirling AE, Taylor AR, Mountjoy ML, Laura Cruz E, Bridges EJ. Canadian Academy of Sport and Exercise Medicine Position Paper: The Clinician’s Role in Addressing and Preventing Maltreatment in Sport 2022.
[3] Koontz JS, Mountjoy M, Abbott KE, Aron CM, Basile KC, Carlson CT, et al. Sexual violence in sport: American medical society for sports medicine position statement. Clinical Journal of Sport Medicine 2020;30:291–2. https://doi.org/10.1097/JSM.0000000000000855.
[4] Mountjoy M, Verhelle H, Finnoff JT, Murray A, Paynter A, Pigozzi F, et al. Infographic. Medical management of harassment and abuse in sports. #WhatWouldYouDo? Br J Sports Med 2024;58:1377–8. https://doi.org/10.1136/bjsports-2024-108876.
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DIE AUTOREN
Tootha,b,c, K. Seila,c, P. Edouardd,e, S. Le Garreca,f, S. Leclerca,g, J.-F. Kauxa,b,h, D. Hannouchea,i, C. Grimj, M. Engelhardtj, C. Nührenbörgerc,k, A. Magoschk, R. Seila,c,k,l
a) Réseau Francophone Olympique de Recherche en Médecine du Sport (ReFORM), International Olympic Committee (IOC) Research Centre for Prevention of Injury and Protection of Athlete Health
b) Service de médecine physique, réadaptation et traumatologie du sport, SportS2, FIFA Medical Centre of Excellence, FIMS Collaborative Centre of Sports Medicine, CHU de Liège, Lüttich, Belgien
c) Luxembourg Institute of Research in Orthopaedics, Sports Medicine and Science (LIROMS), Luxemburg, Luxemburg
d) Laboratoire Interuniversitaire de Biologie de la Motricité (LIBM), Université de Lyon, Université Jean Monnet Saint Etienne, Lyon, Frankreich
e) Unité de Médecine du Sport, Service de Physiologie Clinique et de l’Exercice, CHU de Saint Étienne, Saint-Étienne, Frankreich
f) Institut National du Sport, de l’Expertise et de la Performance (INSEP), Paris, Frankreich
g) Institut National du Sport du Québec (INS), Montreal, Kanada
h) Département des Sciences de l’Activité Physique et de la Réadaptation, Université de Liège, Lüttich, Belgien
i) Service de Chirurgie Orthopédique et Traumatologie de l’Appareil moteur, Hôpitaux Universitaires de Genève, Genf, Schweiz
j) Osnabrücker Zentrum für muskuloskelettale Chirurgie (OZMC), Klinikum Osnabrück, Osnabrück, Deutschland
k) Sports Clinic, Centre Hospitalier de Luxembourg (CHL) – Clinique d’Eich, Luxemburg, Luxemburg
l) Human Motion, Orthopaedics, Sports Medicine and Digital Methods, Luxembourg Institute of Health (HOSD), Luxemburg, Luxemburg