Lumbale Rückenschmerzen sind nicht nur in der Normalbevölkerung eine der häufigsten Beschwerden und Ursache von Arztbesuchen, sondern insbesondere auch beim Sportler.
Mit Rückenschmerzen oder Lumbalgien ist man nicht 100% fit, die resultierende Leistungseinschränkung ist entsprechend gefürchtet.
Neben den klassischen akuten Lumbalgien (Hexenschuss), die sich durch eine kurze Dauer von meist wenigen Tagen auszeichnen und eine hervorragende spontane Rückbildungstendenz haben treten in einem deutlich geringeren Prozentsatz komplexere Krankheitsbilder auf. Dabei stellt der lumbale Bandscheibenvorfall als Verlaufsvariante der Bandscheibendegeneration das häufigste Krankheitsbild im mittleren Lebensalter dar.
Die Datenlage von Studien ist eindeutig, bei Sportlern, die leistungs- oder profimäßig Sport betreiben ist die Prävalenz sowohl für Rückenschmerzen als auch für degenerative Prozesse (Alterung) der lumbalen Bandscheiben im Vergleich zur Normalbevölkerung signifikant erhöht.
Ebenso ist der negative Effekt von Bewegungsmangel und langen statischen Haltungen (z.B. langem Sitzen, Stehen, Liegen) eindeutig belegt.
Dagegen belegt die Datenlage klar, dass der gemäßigte Sport sich ideal zur Prophylaxe von Rückenschmerzen und Verhinderung der Progression des Fortschreitens der Degeneration des lumbalen Bewegungssegmente eignet.
Beratung von Patienten und Sportlern:
Nun ist es (zumindest in der Sprechstunde) schwierig sich beratend festzulegen und zu empfehlen in welchem Umfang und Intensität eine Sportart betrieben werden soll. Dieser Wunsch wird von Patientenseite regelmäßig vorgetragen. Erschwert wird diese Beratung durch viele weitere beeinflussende Faktoren wie individuelle Belastbarkeit, anatomische Faktoren, Sporttechnik und Art und Weise der Sportausübung, Sportgeräte und Untergrund.
Welches Ziel hat „mein Sport“?
Eines ist jedoch einfach. Entscheidend ist die Zielsetzung mit der der Sport ausgeübt wird. Hier muss beraten werden. Der Patient kann ermutigt werden eigenverantwortlich über seine geplante sportliche Aktivität nachzudenken, die Antwort wird meist eindeutig sein: Was soll der Sinn und Zweck der Aktivität sein? Soll die Gesundheit gefördert werden, das ‚anti-aging‘, also solange wie möglich beschwerdefrei fit bleiben oder sollen andere Ziele bedient werden. Ist die sportliche Leistung das Ziel? Verdiene ich mein Geld im Sport, doch auch gerade im Leistungssport muss man strategisch vorgehen.
Interessanterweise erhöhen bestimmte Pathologien der Bewegungssegmente der Wirbelsäule sogar die (sportliche) Leistungsfähigkeit, zumindest kurzfristig. Die Spondylolyse mit konsekutiver Überbeweglichkeit im Bewegungssegment ist bei Kontortunisten (Schlangenmenschen im Zirkus) oft zu beobachten und ermöglicht extreme Verrenkungen. Die horizontale Durchtrennung der zervikalen Halsbandscheiben, die ab dem 20. Lebensjahr zu beobachten ist erhöht die Rotationsfähigkeit des Kopfes und eine bessere Übersicht, entwicklungsgeschichtlich wird dadurch ein Überlebensvorteil vermutet.
Ursache:
Die Degeneration der lumbalen Bandscheiben ist individuell sehr unterschiedlich und wird von einer Vielzahl von Faktoren beeinflusst:
Genetik:
- Qualität des Knorpelmatrix aus kollagenen Fasern und Proteogykanen
- Aufbau der Wirbelsäule (Übergangsstörungen, ungünstige Größenunterschiede der Wirbelkörper zueinander)
- Form , Aufbau und Stellung der Facettengelenke (Asymmetrien)
- Angeborene Sagittale Balance
- Angebohrene Spineopelvine Parameter
Erworbene Ursachen:
- Körperliche Belastung (keine, zu viel)
- Fehlbelastungen (Hyperlordose)
- Noxen: Rauchen, ungünstige Trink und Ernährungsgewohnheiten
- Erworbene sagittale Balance (schlechte Haltung)
- Erworbene spineopelvine Parameter (Erkrankungen der Nachbargelenke, Verkürzungen)
Externe Faktoren:
- Bakterieller Befall, Viren, Pilze
- Krankheiten: M. Bechterew, Scheuermann, Rheuma
Übergewicht als Einfluss Faktor muss differenziert betrachtet werden. Viele Menschen mit Adipositas weisen einen überdurchschnittlich guten Erhaltungszustand der lumbalen Bandscheiben auf. Dagegen werden Genesung und Mobilisation massiv negativ beeinflusst.
Subjektiv wird von der Patientenseite aus meist primär die körperliche Überbelastung als Verursachung der Bandscheibendegeneration gesehen. In der Praxis zeigt sich, dass jedoch die oben angeführten nicht beeinflussbaren Faktoren deutlich im Vordergrund stehen.
Degeneration der Bandscheibe
Die Degeneration der Bandscheibe wird im MRT am besten nach Pfirrmann eingeteilt und zieht eine Höhenminderung des Bandscheibenfaches nach sich.
Diese Höhenminderung hat massive Auswirkungen auf das Bewegungssegment:
Entspannung der Bandstrukturen mit der Folge einer Mikroinstabilität, als Reaktion versucht der Körper durch Knochenanbauten (Spondylophyten) die Stabilität wieder zu verbessern. Die Spondylophyten benötigen Platz und engen dann den Spinalkanal und die Neuroforamina ein.
Durch die Entspannung des Ligamentum Flavums wird dies zum einen dicker und es stülpt sich zusätzlich in den Spinalkanal ein. Dies ist ein entscheidender Faktor bei der Entwicklung einer spinalen Enge.
Vermehrte Belastung der Facettengelenke (die normalerweise keine Gewichtbelastung tragen): Überlastungen, Gelenkserguß, Zystenbildung, Verformung, knöcherne Kontaktstellen, Arthrose
Der Bandscheibenkern verliert im Laufe der Degeneration seine biomechanische Stützfunktion, das Gewebe weist im fortgeschrittenen Stadium zum großen Teil lockere Bruchstücke und Fragmente auf. Solange der Faserring fest bleibt kann die Bandscheibe weiterhin Gegendruck entwickeln und ihre Funktion als Abstandshalter zwischen den Wirbelkörpern wahren. Kommt es jedoch zu einem Nachgeben des Faserring oder sogar zu eine Einriß, so kann es zu einer Protrusion oder freien Sequester kommen.
Diese Veränderungen können am besten nach Kramer (Abb.) eingeteilt werden. Morphologisch gleicht keine Bandscheibendegeneration der anderen.
Im günstigeren Fall kommt es zu einer „Austrocknung“ der Bandscheibe, es folgt eine Höhenminderung bis zum kompletten Aufbrauch des Bandscheibenfaches ohne das es zu einem Bandscheibenvorfall kommt. Im schlechteren Fall bleibt der Kern und die Höhe gut erhalten, doch wenn dann der Faserring nachgibt oder einreißt kann es zu einem großen Vorfall bis zum Massenvorfall kommen.
Diagnostik:
In der täglichen Praxis wird man immer mit den Aussagen von Patienten konfrontiert, die berichten, sie würden jemanden kennen, der einen Bandscheibenvorfall diagnostiziert bekommen hatte (mit MRT) und dann nach ein paar Wochen unter konservativer Therapie wieder schmerzfrei wurde.
Allerdings sind die vom Radiologen festgestellten Veränderung (ab einem gewissen Alter sind immer multisegmental einige Vorwölbungen vorhanden, die auch als Vorfall beschrieben werden) nicht unbedingt für die Beschwerden des Patienten ursächlich.
Anders als bei anderen Stellen des Bewegungsapparates (Gelenke) ist es typisch für die Wirbelsäule, dass auch starke bis extreme Veränderungen nicht unbedingt die Ursache der aktuellen Beschwerden sein müssen.
Es gilt daher der Satz: Es sollen keine Bilder, sondern klinische Befunde behandelt werden.
Als Grundregel gilt:
Je mehr die Klinik einer eindeutigen Radikulopathie entspricht, desto eher besteht die Möglichkeit eine eindeutige Ursache in der Bildgebung festzulegen.
Je mehr klinisch nur axiale Beschwerden vorhanden sind, desto unwahrscheinlicher wird die Möglichkeit eine eindeutige Ursache in der Bildgebung auszumachen.
Radikulopathien werden durch Druck auf die Nervenwurzeln und chemische Reaktionen (freie Bandscheibenanteile im Spinalkanal) hervorgerufen. Durch die klinischen Symptome einer Schmerzausstrahlung in die entsprechenden Dermatome und passende neurologische Ausfälle der Sensibilität und Motorik gelingt es häufig ein passendes bildgebendes Korrelat auszumachen.
Bei axialen Rückenschmerzen sollte der Beschwerde-Ursprung eher zuerst im Bereich der Facettengelenke, der Muskulatur, der Faszien, den Iliosakralgelenken, den Nachbargelenken und weiteren pseudoradikulären Faktoren gesucht werden, als in den in der Bildgebung festgestellten Bandscheibenpathologien. Ein Ausnahme ist hier der sehr enge Spinalkanal bei einer zentralen spinalen Enge oder bei einem Massenvorfall.
Ein Schmerz, der durch die Bandscheibe selbst entsteht, also der sog. Diskogene Schmerz, wird in den Fachgesellschaften sehr kontrovers diskutiert, daher sollte eine entsprechende Diagnose mit Vorsicht gestellt und dem Patienten übermittelt werden. Das gilt im Übrigen auch für die Osteochondrose, die nach Modic in 3 Grade eingeteilt wird.
Behandlung:
Grundsätzlich besteht eine sehr gute Prognose (über 80%) zur Rückbildung von Beschwerden spontan als auch unter konservativer Therapie bei einem symptomatischen lumbalen BSV.
In der akuten Phase mit maximalen Schmerzen wird man versuchen über eine Schmerzmedikamentation nach WHO Schema die Beschwerden zu reduzieren. Gelingt dies ambulant nicht ist eine stationäre Versorgung mit i.v. Medikamentation eine sinnvolle Möglichkeit.
In der sekundären Phasen kommen zum Einsatz:
- Infiltrationen (PRT, LESI, caudale Umflutung etc.)
- Stufenlagerung, dann zunehmend Bewegung im Alltag
- Physiotherapie nach Abklingen der akuten Schmerzphase
- Versuch komplementärer Maßnahmen je nach Präferenz
Eine OP Indikation besteht:
Absolut:
Notfallmäßig:
- Konus-Kaudasymptomatik
- Akute schwere motorische Ausfälle: KG 0/5 bis 2/5 nach Janda
Im Intervall:
- Persistierende (oder schlechter werdende funktionell wirksame und störende Paresen
Relativ:
- Nicht tolerierbare Beschwerden über 6 bis 8 Wochen Symptomdauer
Bei einer Konus Kaudasymptomatik sollte die klinische Diagnostik eine Testung auf Reithosenanästhesie, Schliessmuskelschwäche und Blasenentleerungstörung (hier wird immer wieder ein Harnverhalt mit einer Überlaufblase verwechselt, daher immer Restharnbestimmung mit SONO oder alternativ mit dem Blasenkatheter) umfassen. Der OP Zeitpunkt sollte dabei so rasch wie möglich gewählt werden, bereits nach 6 Stunden steigt das Risiko deutlich für ein persistieren der Blasen-Mstdarmstörung ggf. lebenslang!
OP Methoden:
Endoskopisch
- Bestimmte anatomische Voraussetzungen notwendig, sonst nicht möglich
- Endoskopischer transforaminaler Zugang: für intra- und extraforaminale Vorfälle gut geeignet
- Endoskopischer interlaminärer Zugang: paramediane Vorfälle, die nicht zu weit nach caudal oder cranial sequestriert sind.
Mikrochirurgisch (Tubus oder Mikrosprerrer)
- Goldstandard, praktisch immer möglich
- Mikrochirurgischer interlaminärer Zugang: median, paramediane Vorfälle
- Mikrochirurgischer translaminärer Zugang: nach cranial perforierte Sequester
- Extraforaminaler Zugang: laterale extraforaminale Vorfälle
- lateraler Pars interarticularis Zugang: intraforaminale Vorfälle
Risiken:
- Nachblutung, epidurales Hämatom 1 bis 2%, meist unkomplizierter Revisionseingriff erforderlich
- Duraverletzung unter 1%, kann fast immer in der selben OP wieder abgedichtet werden, selten Zeiteingriff notwendig
- Unzureichende Sequesterentfernung und Schmerzpersistenz, deutlich unter 1%
- Rezidivbandscheibenvorfall: 1%
- Theoretisch möglich: Verletzung viszeraler Organe, Nervenverletzung
Eine Instabilität ist nach beiden OP verfahren durch die Schonung der Muskulatur, der knöcheren Strukturen und der Facettengelenke nicht zu erwarten. Postoperativ kommt es im Zugangsbereich erfreulicherweise zu einer Narbenbildung, sonst würde ja die Wunde für immer offen bleiben. Die Narbe macht keine Beschwerden oder Schmerzen. Sie schränkt aber den Nerven in seiner Bewegungsfreiheit ein, so dass dieser bei einem erneuten Vorfall nicht mehr so gut ausweichen kann. Außerdem erschwert die Narbe ein erneutes operatives Vorgehen da technisch schwieriger und zeitaufwendiger präperiert werden muss. Die Narbenbildung ist beim endoskopischen und mikrochirurgischen Vorgehen gleich stark.
Abläufe:
Die Operationen werden in Vollnarkose durchgeführt. Direkt nach OP Ende wacht der Patient auf, Schmerzen und Neurologie können sofort kontrolliert werden.
Der stationäre Aufenthalt beträgt in der Regel ein bis zwei postoperative Übernachtungen. Der Medizinische Dienst der Krankenkassen gesteht nur eine Übernachtung zu, d.h. der Patient muss bei Schmerzfreiheit am nächsten Tag entlassen werden, sonst wird eine sogenannte Fehlbelegung in Begutachtung des Falles festgestellt mit der Folge empfindlicher finanzieller Strafen.
Nachbehandlung:
Das Nachbehandlungsschema kann nicht über einen Kamm geschoren werden, sondern ist vom festgestellten Rezidivrisiko abhängig.
Das Rezidivrisiko ist u.a. im wesentlichen von 2 Faktoren abhängig: dem Annulusdefekt und der Restbandscheibenhöhe
Ein großer Anulusdefekt (durch die Perforation des Vorfalls oder iatrogen durch Inzision des Anulus) begünstigt die Möglichkeit für einen Rezidivbandscheibenvorfall
Der Restbandscheibenhöhe, wird im präoperativen MRT festgestellt, eine große Höhe bedeutet noch viel Bandscheibenmaterial das nachaltern kann.
Die beste Belastungsfähigkeit ist im Idealfall daher bei einer reinen Sequesterektomie oder Dekompression gegeben.
Aufgrund dieser Heterogenität ist auch die Studienlage (im deutschsprachigen Raum ist die beste Studie eine Befragung von Operateuren über die gelebte Praxis) sehr dürftig und erlaubt keine einheitlichen Empfehlungen nach Datenlage.
In eigenen Untersuchungen wurde festgestellt, dass ein großer Teil der Patienten in der Operation eine Zäsur sah und den Wunsch hatte direkt nach der Operation ein neues Leben anzufangen mit mehr Sport etc. Dies ist jedoch keine besonders gute Idee, vor dem Trainingslager muss man der Bandscheibe etwas Zeit zur Heilung gönnen.
Nach eigenen Untersuchungen kann man postoperativ von 3 Phasen ausgehen:
0-6 Wochen: Heilungsphase: Hier ist das Ziel eine Heilung des präoperativ entstandenen Bandscheibendefektes wie es auch im konservativen Fall notwendig gewesen wäre. Schonung der Lendenwirbelsäule, Vermeiden ungünstiger Haltungen und Bewegungen, Physiotherapie zur Anleitung von Bewegungsabläufen; ab der 3. Wochen: Physiotherpie aktiv und Anschlußheilbehandlung (Rehamaßnahme) möglich, Hometrainer möglich.
Ab 6. Woche: Aufbauphase: Hier ist das Ziel nach langer prä- und postoperativer Belastungsreduktion und entsprechendem Muskelabbau innerhalb von 6 Wochen sich langsam an sein früheres beschwerdefreies Niveau heranzutasten. In dieser Zeit sollten nur kontrollierte Bewegungen (Z.B: Kraftraining, Radtraining ohne Sturzgefahr) ausgeführt werden, d.h. sportliche Betätigung ohne unvorhergesehene Bewegungen (z.B. Ausgleichsbewegungen).
Ab 12. Woche: Bei Beschwerdefreiheit können nun auch langsam und progessiv Sportarten mit unkontrollierten Bewegungen ausgenommen werden (Skifahren, Tennis, Mannschaftssport) um die volle Sportfähigkeit anzustreben.
Cave: Auch nach Abschluß der 12. Wochen sollten alle Patienten, insbesondere die Patienten mit z.n. Nucleotomie und großem Anulusdefekt Vorsicht walten lassen bei: ungewohnten Hebearbeiten mit schweren Gewichten, ungewohnte Zwangshaltungen, allgemein ungewohnte und extreme Belastungen.
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DER AUTOR
Dr. med. Markus Knöringer ist Facharzt für Neurochirurgie und Sportmedizin. Er betreibt Praxen für Neurochirurgie, Wirbelsäulentherapie und Sportmedizin am
Standort München: Sendlingerstr. 14, 80331 München
Standort Miesbach: Bayrischzellerstr. 2, 83714 Miesbach
www.neurochirurgie-knoeringer.de