Gesellschaft für Orthopädisch-Traumatologische Sportmedizin

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Wirbelsäulenbelastung im alpinen Skirennsport

Sehr geehrte Damen und Herren,

viele Skiprofis und Freizeit-Skiathleten klagen über Rückenschmerzen. Dabei sind Verletzungen der Wirbelsäule im alpinen Skirennsport eher die Ausnahme. Meist treten die Beschwerden durch Überbelastung auf. Der Newsletter beschreibt unter anderem, welche vielfältigen Gründe es dafür gibt und warum sie individuell bewertet, diagnostiziert und therapiert werden müssen.

Der 30. Jahreskongress der GOTS wird am 12. und 13. Juni 2015 erstmals in der Schweiz stattfinden. Wir möchten Sie schon jetzt auf diesen Termin hinweisen, und Sie herzlich ins Congress Center nach Basel einladen. Weitere Informationen finden Sie unter: www.gots-kongress.org

Herzliche Grüße,
Ihr Andreas Bellinger (presse@gots.org)

Wirbelsäulenbelastung im alpinen Skirennsport

Die Abfahrtspisten und -spuranlagen im alpinen Skirennlauf werden zunehmend extremer. Trotzdem sind Verletzungen der Wirbelsäule im alpinen Skirennsport eher selten, auch wenn viele Weltklasse-Skiathleten immer wieder über Rückenschmerzen klagen. Diese Beschwerden treten meist durch Überlastung auf, was neben den Skiprofis auch den Freizeit-Skiathleten betreffen kann – und für die betreuenden und behandelnden Ärzte eine zum Teil große Herausforderung bedeutet.

Anforderungs- und Belastungsprofil der Wirbelsäule im alpinen Skirennsport

Eine kräftige Rumpfmuskulatur ist Voraussetzung für eine erfolgreiche Performance im alpinen Skirennsport. Eine optimierte beinorientierte Skitechnik fordert einerseits einen stabilen („ruhigen“) Oberkörper und andererseits eine ständig regulierende Ausgleichbewegung des Oberkörpers. Diese Anforderungen betreffen  insbesondere die Wirbelsäule als zentral stabilisierende Achse.

Aufgrund der mittlerweile radikalen Spuranlagen, der kompromisslosen Fahrweise der Skiathleten und der direkten Kraftübertragung durch die Skischuh-Bindung-Ski-Einheit führt dies bei meist vereisten Schneebedingungen zu einer maximalen Belastung der Wirbelsäule sowie deren stabilisierender aktiver und passiver Strukturen. Dies zeigt sich in der Bewegungsanalyse in deutlich höheren Kurvengeschwindigkeiten und damit höheren Zentrifugalkräften bzw. größeren Kurvenlagewinkeln im Vergleich zu früheren Jahren.

Der Skiathlet muss dies durch ein Mehr an Ausgleichsbewegung des Oberkörpers kompensieren, um den kurvenäußeren Ski weiterhin optimal zu „treffen“. Dabei wird vor allen die Lendenwirbelsäule extrem belastet, da der Oberkörper gleichzeitig aerodynamisch günstig nach vorne in eine gedrungene Stellung gebracht wird. Biomechanische Daten zeigen, dass bei trainings- bzw. wettkampftypischen Situationen Belastungen bis zum 10-fachen des Körpergewichtes auf den Organismus einwirken können (Brucker et al., 2011).

Verletzungshäufigkeit und Verletzungsprofil der Wirbelsäule

Differenziert werden muss zwischen akuten Verletzungen und überlastungsbedingten Beschwerden bzw. Schäden der Wirbelsäule. Aktuelle Daten zu akuten Verletzungen der Wirbelsäule im alpinen Skirennsport auf Welt- und Europacup-Level liefern Erhebungen des Oslo Sports Trauma Research Center im Auftrag der Fédération Internationale de Ski (FIS). Im Bereich der unteren Wirbelsäule (inkl. Kreuzbein und Beckenregion ohne Hüfte) weisen die männlichen Skiathleten pro Saison mit 5 Verletzungen/100 Athleten deutlich höhere Verletzungszahlen auf als die weiblichen Skiathleten mit 2 Verletzungen/100 Athletinnen (Bere et al., 2014; Brucker & Ruedl, 2014). Allerdings konnten mehr als zwei Drittel der betroffenen Skiathleten innerhalb einer Woche wieder mit dem skispezifischen Training beginnen (Flørenes et al., 2009), so dass die Mehrzahl an Verletzungen als nicht schwerwiegend einzuschätzen waren.

An überlastungs- und/oder degenerativ bedingten Wirbelsäulenbeschwerden, die regelmäßig medizinischer bzw. physiotherapeutischer Behandlung bedarf, leidet ein beträchtlicher Anteil der Skiathleten. Das lässt sich aus intern erhobenen Daten der Deutschen Skinationalmannschaft alpin schlussfolgern. National übergreifende Zahlen liegen dazu nicht vor.

Akute Verletzungen

Akute Verletzungen der Wirbelsäule ergeben sich meist aus Stürzen im Training und Wettkampf. Hier finden sich häufig Kontusionen (Prellungen) im Bereich der Wirbelsäule, teilweise mit Einblutungen in die autochthone sowie angrenzende Rückenmuskulatur. Insbesondere im Bereich der Halswirbelsäule werden bei Stürzen gelegentlich Distorsionsverletzungen (Schleudertrauma) beobachtet. Frakturen der Querfortsätze (Proc. transversi) im Bereich der Brust- und Lendenwirbelsäule treten bei direkten Anpralltraumen selten auf, Frakturen der Wirbelkörper noch seltener.

Überlastungsschäden

Im Gegensatz zu akuten Verletzungen der Wirbelsäule stellen überlastungsbedingte Beschwerden den Hauptanteil dar und sind als relevantes Problem in der täglichen Trainings- und Wettkampfpraxis anzusehen. Die Ursachen sind insgesamt als vielschichtig zu bezeichnen. Dabei sind die hohen Belastungen im alpinen Skirennsport nicht per se ursächlich. Vielmehr stellen anlagebedingte Anomalien und/oder degenerativ bedingte Veränderungen an der Wirbelsäule die strukturelle Grundlage für die Beschwerden in diesem Bereich dar, die durch die hohen Belastungen im Verlauf dann symptomatisch werden.

Die bei den Kaderathleten der deutschen alpinen Skinationalmannschaft im Rahmen der medizinischen Diagnostik nachgewiesen Pathologien bzw. Anomalien im Bereich der Wirbelsäule entsprechen denen, die bei kernspintomographischen Untersuchungen an gleichaltrigen Erwachsenen, die keine Beschwerden an der Wirbelsäule aufweisen und keine Spitzensportler sind, beobachtet wurden (Weishaupt et al., 1998). Hierunter fallen degenerativ bedingte Schädigungen an den Bandscheiben (z.B. Bandscheibenvorfall), Alterationen an der Deckplatte (z.B. Scheuermann) oder anlagebedingte Anomalien (z.B. lumbosakrale Übergangsstörungen). Es ist davon auszugehen, dass derartige Pathologien bzw. Anomalien im „normalen Alltag“ der Skiathleten – vergleichbar zur Normalbevölkerung – primär klinisch stumm sind und erst durch die anhaltend hohen Belastungen zu Beschwerden der kritischen Wirbelsäulenstrukturen führen.

Diagnostik und Therapie

Die strukturierte Diagnostik umfasst neben der Anamnese und der klinischen Untersuchung im Wesentlichen die bildgebenden Verfahren wie Sonographie, Röntgen, Kernspintomographie oder Computertomographie. Zusätzlich erfolgt eine Analyse von Videosequenzen des betreffenden Skiathleten (z.B. Verletzungsmechanismen, Technikanalyse), welche durch funktionellen Tests (Kraftdiagnostik) ergänzt werden. Hierauf basierend schließt sich in der Regel ein multimodales Behandlungskonzept aus orthopädisch-medizinischer Therapie, physiotherapeutischer Behandlung, physikalischer Therapieformen und trainingswissenschaftlicher Aufbauprogrammierung an. Des Weiteren ist es häufig notwendig, das individuelle Training, die skispezifische Technik und die Wettkampfplanung anzupassen. In der überwiegenden Zahl können die Beschwerden an der Wirbelsäule mit konservativen Maßnahmen erfolgreich in den Griff bekommen werden, was in Einzelfällen allerdings langwierig sein kann.

Prävention

Ein tägliches Kraft- und Stabilisationstraining der Rücken-, Bauch- und Rumpfmuskulatur ist unabdingbare Grundlage für eine erfolgreiche Performance im alpinen Skileistungssport. Alle Kaderathleten der Deutschen Skinationalmannschaft alpin werden hierbei trainingsdiagnostisch im Verlauf der Vorbereitungsphase bzw. Skisaison hinsichtlich ihrer quantitativen Kraftwerte der Rumpfmuskulatur bewertet. Dabei erhält jeder Athlet ein individuelles Feedback hinsichtlich seines „Kraftwerte-Zustandes“ der einzelnen Anteile der Rumpfmuskulatur, so dass ein personalisiertes Kraft- und Stabilisationstraining erfolgen kann.

Darüber hinaus werden Protektoren der Wirbelsäule und zum Teil auch der Nierenlager als passive Systeme zur Prävention verwendet, um bei Traumata die lokale Krafteinwirkung im Bereich der Wirbelsäule auf eine größere Fläche zu verteilen. In den nächsten Jahren werden noch weitere, aktivierbare Protektionssysteme Einzug in den Skirennsport finden, welche die Wirbelsäule bei Stürzen noch besser schützen sollen.

Fazit

Trotz hoher Belastungen sind Verletzungen der Wirbelsäule eher selten. Dagegen dominieren Überlastungen aufgrund des hohen Anforderungsprofils. Sie stellen eine relevante medizinische Herausforderung für die betreuenden und behandelnden Mannschaftsärzte und Physiotherapeuten dar. Die Ursachen der Wirbelsäulenbeschwerden bei den Skiathleten sind vielfältig und müssen individuell bewertet, diagnostiziert und therapiert werden. Individuelle Adaptationen im Trainingsprozess sind hierbei häufig notwendig, damit längere Trainings- und Wettkampfpausen vermieden werden können. Eine direkte Kommunikation zwischen Athlet, Trainer, Physiotherapeut und Arzt ist dabei zwingend erforderlich.

Über die Autoren:

Die Autoren sind Mannschaftsärzte alpin im Deutschen Skiverband (DSV):

Priv.-Doz. Dr. Peter U. Brucker ist Facharzt für Orthopädie, Unfallchirurgie und Sportmedizin und tätig als Oberarzt an der Abteilung für Sportorthopädie am Klinikum rechts der Isar der Technischen Universität München; Dr. Stefan Beyerlein ist Facharzt für Orthopädie, Sportmedizin und Akupunktur in München; Dr. Ernst-Otto Münch ist Facharzt für Orthopädie am OCM in München, leitender DSV-Mannschaftsarzt und Sportarzt des Jahres 2013 der GOTS; Dr. Hubert Hörterer ist Facharzt für Orthopädie und Sportmedizin in Rottach-Egern, ebenfalls leitender DSV-Mannschaftsarzt sowie Chairman der medizinischen Kommission der FIS.

 

Literatur

– Bere T, Flørenes TW, Nordsletten L, Bahr R. Sex differences in the risk of injury in World Cup alpine skiers: a 6-year cohort study. Br J Sports Med 2014; 48(1): 36-40.

– Brucker PU, Ruedl G. Gefahren im alpinen Ski-Leistungssport – Gefährdung und Gefährdungsprävention: Ein epidemiologischer Vergleich zu anderen Leistungssport-Wintersportarten und zum alpinen Ski-Breitensport. Sportortho Trauma 2014; 30(4): 331-338.

– Brucker PU, Spitzenpfeil P, Huber A, Waibel K, Maier W. Belastungen und Verletzungen des Kniegelenkes im Alpinen Ski-Hochleistungssport – Eine Status-quo-Analyse unter spezieller Fokussierung auf das vordere Kreuzband. Sportortho Trauma 2011; 27(4): 247-254.

– Flørenes TW, Bere T, Nordsletten L, Heir S, Bahr R. Injuries among male and female World Cup alpine skiers. Br J Sports Med 2009; 43(13): 973-978.

– Weishaupt D, Zanetti M, Hodler J, Boos N. MR imaging of the lumbar spine: prevalence of intervertebral disk extrusion and sequestration, nerve root compression, end plate abnormalities, and osteoarthritis of facet joints in asymptomatic volunteers. Radiology1998; 209(3): 661-666.

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