Gesellschaft für Orthopädisch-Traumatologische Sportmedizin

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Zehnkampf: Sind die Könige der Leichtathletik Übermenschen?

Sehr geehrte Damen und Herren,

am 29. August gegen 21.30 Uhr Ortszeit steht fest, wer der „König der Athleten“ ist. Der Zehnkampf in der Leichtathletik wird auch bei den Weltmeisterschaften in Peking ( 22. bis 30. August) wieder ein Höhepunkt sein. Mit dabei sind im „Vogelnest“ genannten Olympiastadion von 2008 auch die drei deutschen Topathleten Michael Schrader, Kai Kazmirek und Rico Freimuth, die allesamt Medaillenchancen haben. Traditionell ist der Zehnkampf eine Domäne der deutschen Leichtathletik, nicht erst seit Willi Holdorf 1964 bei den Olympischen Spielen in Tokio Gold gewonnen hat.

Auch der Autor dieses GOTS-Newsletters, Dr. Siegfried Wentz, war ein herausragender Zehnkämpfer. Bei den Olympischen Spielen 1984 in Los Angeles gewann er die Bronzemedaille und ließ drei Jahre später bei der WM in Rom Silber folgen. Der Facharzt für Orthopädie, Unfallchirurgie und Sportmedizin beschreibt die speziellen Voraussetzungen für den Zehnkampf, analysiert die Gefahren und extremen Herausforderungen durch die zehn unterschiedlichen Disziplinen und klärt auf, was dran ist an dem Mythos, dass Zehnkämpfer sportliche Übermenschen sind.

Mit freundlichen Grüßen

Ihr Andreas Bellinger, presse@gots.org

Zehnkampf: Sind die Könige der Leichtathletik Übermenschen?

Wenn am 28. August um 9.00 Uhr Ortszeit in Peking der WM-Zehnkampf beginnt, werden unter den 30 Konkurrenten auch drei deutsche Athleten in den Startblöcken zum 100-m-Lauf sitzen. Wenn sie fit und gesund bleiben, haben sie alle Medaillenchanchen: Michael Schrader und Kai Kazmirek, die in diesem Jahr bereits deutlich über 8.400 Punkte erzielt haben, und Rico Freimuth mit einer Punktzahl knapp darunter. Der Titelverteidiger und Weltrekordler Ashton Eaton aus den USA (WR: 9.039 Punkte) hat in dieser Saison noch keinen Zehnkampf absolviert. Es stehen jedoch überragende Ergebnisse in den einzelnen Disziplinen zu Buche, sodass er kaum zu schlagen sein dürfte. Erster Anwärter auf die Silbermedaille ist sein Landsmann Trey Hardee, der Weltmeister von 2009 und 2011, der in diesem Jahr bereits über 8.700 Punkte vorgelegt hat. Dahinter findet sich eine gute Handvoll Athleten mit Medaillenambitionen (Damian Warner/Kanada, Kevin Mayer/Frankreich, Ilja Schkurenjow/Russland) und eben unsere drei Top-Zehnkämpfer.

Der Zehnkampf:

Bei den Olympischen Spielen 1912 in Stockholm stand der Zehnkampf erstmals auf dem Programm der Leichtathletik. Weil es so viele Teilnehmer gab, dauerte der Wettkampf sogar drei Tage. König Gustav V. von Schweden, der die Wettkämpfe verfolgte, sagte bei der Siegerehrung zu Jim Thorpe, einem Amerikaner indianischer Abstammung: „You, Sir, are the greatest athlete in the world.“ Thorpe war somit der erste „König der Leichtathletik“.

In den folgenden Jahren wurde der Zehnkampf im leichtathletischen Programm etabliert mit zehn Disziplinen an zwei aufeinanderfolgenden Tagen.

1. Tag: 100-m-Lauf – Weitsprung – Kugelstoß – Hochsprung – 400m Lauf.

2. Tag: 110-m-Hürden – Diskuswurf – Stabhochsprung – Speerwurf – 1500m Lauf.

Jede Disziplin wird mit Punkten bewertet. Für eine Leistung in der Nähe des Einzelweltrekords in der jeweiligen Disziplin sind ca. 1.000 bis 1.100 Punkte möglich. Die Wettkampfdauer mit den Pausen zwischen den Disziplinen liegt bei bis zu jeweils 13 Stunden pro Wettkampftag.

In Deutschland ist der Zehnkampf spätestens seit der Fernsehübertragung vom Olympiasieg in Tokio 1964 durch Willi Holdorf zum Mythos geworden. Der Kampf um Punkte, Zentimeter und Sekunden; gegen Hitze, Kälte, Regen und gegen sich selbst. Bilder torkelnder, müder, vom zweitägigen Ringen um Höchstleistung gezeichneter Athleten, die sich nach dem 1500-m-Lauf in die Arme fallen – Gegner und Kameraden zugleich – machen den Zehnkampf, seine Geschichten und Protagonisten zu etwas Besonderem, wenn nicht sogar Unvergleichlichem.

Training / Trainingsbelastung:

Der klassische Start einer Karriere als erfolgreicher Zehnkämpfer beginnt im Schüleralter von 12 bis 14 Jahren mit Mehrkämpfen. Hier werden die Grundlagen gelegt und Fähigkeiten wie Geschicklichkeit, Schnelligkeit, Sprungkraft und Ausdauer geschult. Im Jugendalter mit 16 bis 19 Jahren zeigt sich bereits das Potenzial eines Athleten. Dann müssen schwierige technische Abläufe wie beim Stabhochsprung, Hürdenlauf und Diskuswerfen bereits beherrscht werden. Der Trainingsaufwand liegt bei 10 bis 15 Stunden pro Woche an 4 bis 5 Tagen.

Das Krafttraining mit Hanteln und Gewichten ergänzt das Technik-, Schnelligkeits- und Ausdauertraining. In dieser Zeit entscheidet sich, auch aufgrund des bereits beträchtlichen Aufwandes, ob nicht eine andere Sportart ausgeübt wird. Viele gute Zehnkämpfer waren und sind hervorragende Fußballer, Handballer oder Basketballer. Optimale Voraussetzungen hat ein ausgewachsener Athlet mit 1,85 bis 1,95 Meter Körpergröße und 80 bis 90 Kilogramm Körpergewicht. Die Disziplinen des Zehnkampfes widersprechen sich in ihrem Anforderungsprofil oft so eklatant, dass eine erfolgreiche Ausübung ausgeschlossen erscheint. So offenbart schon die optische Gegenüberstellung, wie sehr sich ein Hochspringer von einem Kugelstoßer unterscheidet. Eine im Zehnkampf immer wieder zu beobachtende Problematik.

Gefragt ist also ein Athlet, der allen Anforderungen der zehn Disziplinen am besten gerecht wird. Im Höchstleistungsalter zwischen dem 20. und 30. Lebensjahr steigt die Trainingsbelastung auf 20 bis 25 Stunden pro Woche mit 8 bis 10 Trainingseinheiten pro Woche. An ein Training in ausgeruhtem/ermüdungsfreiem Zustand ist nur ausnahmsweise zu denken. Besonders in den Winter- und Frühjahrsmonaten werden sehr hohe Umfänge in allen Bereichen trainiert: Tempoläufe, Ausdauer, Kraft und Sprungkraft. Ab März werden die Umfänge reduziert und Techniktraining sowie Intensität nehmen stetig zu, bis von Mai bis September die Wettkampf-Saison kommt.

Die meisten Zehnkämpfer absolvieren, wenn möglich, 3 bis 4 Zehnkämpfe pro Saison mit einem Abstand von 3 bis 6 Wochen, um zwischen den Wettkämpfen noch einmal  Ruhephasen, besonders intensive Trainingsphasen oder Nachbesserungen im Technik-Training einzustreuen. Insbesondere in den Vorbereitungsmonaten mit sehr hohen Trainings-Umfängen kommt es schnell zu Überlastungsbeschwerden, aber auch wenn „Wehwehchen“ aus der Wettkampfsaison mit in den Winter geschleppt werden. Da der gesamte Bewegungsapparat gefordert ist, sind diese vielfältig:

– Achillessehnenbeschwerden / Entzündungen des Gleitgewebes

– Überlastung Fußgewölbe / Ermüdungsbrüche

– Muskelverhärtungen/Zerrungen Oberschenkelrückseite/Beuger

– Patellasehnenreizungen / Jumper´s knee

– Reizungen am Schambein

– Muskelverhärtungen lange Rückenstrecker / Bandscheibenprobleme

– Entzündungen Ellbogen / Speerwerferellenbogen

– Entzündungen Schulter / Bizepssehnen-/Impingementsyndrom

Entscheidend ist eine erfolgreiche Trainingsökonomie. So werden entsprechend der Disziplinfolge im Wettkampf das Sprint- und Weitsprungtraining oder Hürden- und Diskustraining kombiniert. Beim Krafttraining muss darauf geachtet werden, dass eine Vermehrung der Muskelmasse zu einer Gewichtszunahme führt, die sich negativ auf die Leistungen in den Sprungdisziplinen und im 1500-m-Lauf auswirkt. Verbesserte Kraftwerte sind wertvoll, wenn sie bei gleichbleibendem Körpergewicht erzielt werden.

Wettkampf in Peking / Verletzungen:

9:30 Uhr / 100-m-Lauf (Zehnkampfrekord: 10,22 Sek. – Weltrekord: 9,58 Sek.):

Drei Stunden vorher aufstehen – Kreislauf anregen – eine Stunde direkte  Vorbereitung mit Steigerungsläufen und Probestarts aus dem Startblock.

Verletzungen:

 

10.30 Uhr / Weitsprung (Zehnkampfrekord: 8,22 m – Weltrekord: 8,95 m):

Nach Anlauf aus 40 bis 45 Metern gilt es, möglichst einen 20 cm breiten Absprungbalken zu treffen, an dessen Ende eine Plastilinschicht den Übertritt markiert. Jeder Athlet hat drei Versuche.

Verletzungen:

 

12.45 Uhr / Kugelstoßen (Zehnkampfrekord: 19,17 m – Weltrekord: 23,12 m):

Die 7,26 Kilogramm schwere Kugel sollte sicher und weit in den relativ schmalen Stoßsektor befördert werden. Der große Teil der Kraft kommt aus den Beinen. Maximal drei Versuche.

Verletzungen:

 

17.30 Uhr / Hochsprung (Zehnkampfrekord: 2,27 m – Weltrekord: 2,45 m):

Für jede Höhe stehen drei Versuche zur Verfügung – daher kann diese bis zu drei Stunden dauern. Die Konzentration muss immer wieder auf den nächsten Sprung hochgefahren werden.

Verletzungen:

 

21.45 Uhr / 400-m-Lauf (Zehnkampfrekord: 45,68 Sek. – Weltrekord: 43,18 Sek.):

Die Stadionrunde: Für den guten Läufer ein Festival – für den schwachen ein Fluch. Die letzten 100 Meter haben es in sich; Physis und Psyche sind maximal gefordert. Die vielen harten Tempoläufe der Vorbereitungszeit zahlen sich im Durchstehen und Verkraften des Laufs aus.

Verletzungen:

 

Ende des 1. Tages –  Auslaufen, Physiotherapie, Essen, 5 bis 6 Stunden Schlaf

 

9.00 Uhr / 110-m-Hürden (Zehnkampfrekord: 13,47 Sek. – Weltrekord: 12,80 Sek.):

Mit schweren Beinen müssen zehn 1,06 m hohe Hürden überquert werden. Sprintstärke, Koordination und Beweglichkeit eines bereits geschundenen Körpers sind gefragt. Es zeigt sich, wer den ersten Wettkampftag gut weggesteckt hat.

Verletzungen:

 

10.30 Uhr / Diskuswerfen (Zehnkampfrekord: 55,87 m – Weltrekord: 74,08 m):

Eine Drehbewegung mit übermüdeten Beinen. Technisch höchst anspruchsvoll gilt es, die 2 Kilogramm schwere Scheibe sicher und weit in den schmalen Wurfsektor zu befördern. Auch hier stehen nur drei Versuche zur Verfügung.

Verletzungen:

 

13.00 Uhr / Stabhochsprung (Zehnkampfrekord: 5,76 m – Weltrekord: 6,14 m):

Mit einem 5 m langen flexiblen Stab aus Fiberglas versucht der Athlet, nach einem Anlauf aus 35 bis 40 Metern mit dem Stab passgerecht einen Einstichkasten zu treffen, den Stab zur Biegung zu bringen und dann mit turnerischen Fähigkeiten über eine Latte zu springen. Es stehen für jede Höhe drei Versuche zur Verfügung. Dauer des Wettkampfs: oft 4 bis 5 Stunden. Das macht die Disziplin für bereits erschöpfte oder technisch schwächere Zehnkämpfer äußerst gefährlich.

Verletzungen:

 

18.30 Uhr / Speerwerfen (Zehnkampfrekord: 79,80 m – Weltrekord: 98,48 m):

Bei dieser Disziplin mit dem 800 Gramm schweren und ca. 2,70 Meter langen Wurfgerät gilt es, besonders auf die Windverhältnisse zu achten. Es stehen drei Versuche zur Verfügung. Ehemalige Handballspieler oder gute Schüler im Schlagballwerfen bringen hier beste Voraussetzungen mit Weitendifferenzen von 20 Metern wirbeln das Ergebnis-Tableau gewaltig durcheinander.

Verletzungen:

 

21.30 Uhr / 1500-m-Lauf (Zehnkampfrekord: 3:58,7 Min. – Weltrekord: 3:26,0 Min.):

Die Physis ist nach zwei endlos lang erscheinenden Wettkampftagen am Ende. Doch für die meisten Zehnkämpfer geht es noch um Medaillen oder persönliche Bestleistungen. In dieser zumeist ungeliebten letzten Disziplin werden ein letztes Mal alle noch vorhandenen Reserven moblisiert. Es ist insbesondere auch ein psychischer Kraftakt. Hinter dem Zielstrich liegen sie alle – japsend nach Luft – auf der Bahn. Der Adrenalinpegel sinkt rasant, und die Anspannung fällt in einer gemeinsamen Ehrenrunde ab. Zehnkämpfer sind Einzelkämpfer, aber auch Kameraden in Erfolg, Enttäuschung und Schmerz. Es ist der Respekt und die Hochachtung vor jedem, der den Zehnkampf durchgestanden hat.

Verletzungen:

 

Fazit:

Zehnkämpfer sind keine Übermenschen. Sie haben als Voraussetzung die für ihre Sportart notwendige Physis und Psyche in die Wiege gelegt bekommen. Wenn dazu das erforderliche Durchhaltevermögen kommt und die Bereitschaft, knallhart zu arbeiten, könnte die sportliche Karriere von Erfolg gekrönt sein. Vorausgesetzt natürlich, es kommen keine schweren Verletzungen dazwischen und der Athlet hat das notwendige Quäntchen Glück auf seiner Seite. Möglicherweise zeigt der Zehnkampf aber auch viele der sogenannten deutschen Tugenden auf. Vielleicht waren deshalb deutsche Athleten in den letzten 100 Jahren in keiner anderen Leichtathletikdisziplin so erfolgreich wie im Zehnkampf – und genießen in der Bevölkerung höchsten Respekt, was sich auch in der Bezeichnung „König der Athleten“ widerspiegelt.

Über den Autor:

Dr. med. Siegfried Wentz ist Chefarzt der MediClin Schlüsselbad Klinik in Bad Peterstal-Griesbach im Schwarzwald. Der Facharzt für Orthopädie, Unfallchirurgie und Sportmedizin leitet dort zudem das Ambulante Therapiezentrum. Von 1994 bis 1998 war er Verbandsarzt für den Jugendmehrkampf im Deutschen Leichtathletik- Verband. Seine größten Erfolge als Zehnkämpfer feierte Wentz bei den Olympischen Spielen 1984 in Los Angeles (Bronzemedaille), bei den Weltmeisterschaften 1983 in Helsinki (Bronze) und 1987 in Rom (Silber) sowie bei den Europameisterschaften 1986 in Stuttgart (Bronze).

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