Gesellschaft für Orthopädisch-Traumatologische Sportmedizin

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Zur WM in Katar: Überlastungsbedingte Sportverletzungen im Profifußball aus trainingswissenschaftlicher Perspektive

Am 20. November beginnt die Fußball-Weltmeisterschaft 2022 in Katar. Dabei exzitieren für die teilnehmenden Athleten sowie den Trainer- und sportwissenschaftlich-medizinischen Betreuerstab gleich mehrere Herausforderungen, die es zu bewerkstelligen gilt: Für die meisten Nationen findet das Turnier mitten im laufendem Wettkampfkalender statt. Hinzu kommen eine hohe Anzahl an bereits absolvierten Pflichtspielen, eine kurze Vorbereitungsphase und eine hohe Wettkampfdichte des Turniers – insbesondere für Mannschaften, die sich für die K.O.-Runde qualifizieren. Auch findet das Turnier unter extremen klimatischen Bedingungen statt, was weniger die Temperatur dafür aber umso mehr die Luftfeuchtigkeit betrifft. Die skizzierten Punkte setzen eine optimale Wettkampf- und Trainingssteuerung sowie sportmedizinische Betreuung voraus. Ziel dieser sollte es sein, die Leistungsfähigkeit der Athleten zu optimieren und gleichzeitig deren Risiko für Sportverletzungen zu minimieren. Dabei sind aufgrund der hohen (Vor-)Belastungen und den damit einhergehenden Beanspruchungen des Bewegungsapparates insbesondere sogenannte überlastungsbedingte Sportverletzungen („overuse injuries“) von großer praktischer und wissenschaftlicher Relevanz.

Bei überlastungsbedingten Sportverletzungen handelt es sich um eine sukzessive Schädigung von muskuloskelettalen Strukturen. Diese resultiert aus dem Zusammenspiel mechanisch bedingter Mikrotraumen und einer fehlgeschlagenen Heilungsreaktion, in dessen Folge es zu einer progressiven Schwächung des betroffenen Gewebes kommt, was nicht nur zu einer reduzierten Leistungsfähigkeit der Athleten führen kann, sondern auch einen möglichen Risikofaktor für weitere (z.T. deutlich schwerwiegenderen) Sportverletzungen darstellt. Zu den häufigsten überlastungsbedingten Sportverletzungen gehören auch im Fußball die Tendinopathien sowie Stressreaktionen und -frakturen. Im Leistungsfußball beträgt die Prävalenz von überlastungsbedingten Verletzungen ca. 30%, wobei die untere Extremität am häufigsten betroffen ist. Da akute Verletzungen durch überlastungsbedingte Verletzungen induziert werden können, ist davon auszugehen, dass die Prävalenz weitaus höher ist, als bisher angenommen. Es ist bekannt, dass sich überlastungsbedingte Verletzungen über lange Zeit ohne oder nur mit zum Teil minimalen Symptomen manifestieren können. Dies führt dazu, dass die betroffenen Athleten bei bereits bestehender Pathologie oftmals weiter trainieren und an Wettkämpfen teilnehmen. Um dies zu vermeiden, ist es für das Trainer- und medizinische Funktionsteam wichtig herauszufinden, welche Trainingsbelastungen mit welchen muskuloskelettalen physiologischen oder pathophysiologischen Gewebereaktionen und -anpassungen assoziiert werden können. Dieses Wissen kann genutzt werden, um mittels Belastungs- und Beanspruchungsmonitoring und ergänzenden Funktionsdiagnostiken das Training individuell anzupassen und weiter zu optimieren.

Ein in der Trainingswissenschaft häufig genutztes Model unterscheidet zwischen den äußeren mechanischen Belastungen („external load“) und den resultierenden inneren physiologisch-biomechanischen Beanspruchungen („internal load“), wobei letztere weiter unterteilt werden können in akute Reaktionen und chronische/ langfristige Anpassungen, die beide einen positiven oder negativen Einfluss auf die Leistung und Gesundheit der Athleten haben können (Abb 1.). Im Fußball werden die äußeren Belastungen typischer Weise mit Parametern wie der Laufdistanz, -geschwindigkeit und -beschleunigung erfasst – neuerdings auch auf Grundlage von absolvierten Sprüngen und Zweikämpfen. Etablierte Messysteme dafür sind Videokamera- sowie mit IMU- kombinierte GPS- und LPS-Technologien. Die inneren Beanspruchungen werden im Fußball üblicherweise anhand der Herzfrequenz, Kreatinkinase-Aktivität, Harnstoffkonzentration sowie dem Energieverbrauch, subjektiven Beanspruchungsempfinden und Regenerationsbedarf mittels etablierter physiologisch-biochemischer Verfahren und Fragebögen erfasst. Die genannten inneren Größen können sich jedoch unmittelbar und/oder langfristig als Reaktion auf die äußeren Belastungen verändern. Wichtig dabei ist, dass Beanspruchungsprozesse stets individuell verlaufen und identische äußere Belastungen bei verschiedenen Athleten zu unterschiedlichen inneren Beanspruchungen führen können – z.B. moduliert durch den Trainings-, Hydrations- und Ernährungszustand, das Klima oder Aufgrund einer veränderten Biomechanik als Folge eines bestehenden muskuloskelettalen Schadens. Im Hinblick auf überlastungsbedingte Verletzungen können auch identische äußere Belastungen im Verlauf der Pathogenese zu unterschiedlichen Beanspruchungsreaktionen bei demselben Athleten führen, was z.B. für biomechanische Gewebeeigenschaften wie der Sehnendehnung und zugrundeliegenden Stiffness zutrifft. Daher ist es von großer Bedeutung, ein Belastungs- und Beanspruchungsmonitoring langfristig im Wettkampf- und Trainingsalltag zu etablieren, um mögliche positive oder negative Reaktionen und Anpassungen zu erkennen und gegebenenfalls frühzeitig gegensteuern zu können.

Trainingswissenschaftliches Belastung-Beanspruchungs Model (Jeffries et al., 2022).

In der Trainingswissenschaft existieren verschiedene Konzepte, um Belastungs- und Beanspruchungsparameter im Kontext von Sportverletzungen zu analysieren. Ein z.Z. kontrovers diskutiertes Konzept ist der sog. Acute:Chronic Workload-Ratio (ACWR). Die grundlegende Idee hinter diesem ist, die erfassten Belastungs- oder Beanspruchungsparameter in ein zeitliches Verhältnis zu setzen. Gängiger Weise bezieht sich „akut“ und „chronisch“ dabei auf den Zeitraum der letzten bzw. letzten vier Trainingswoche(n), wobei aktuell auch die Aussagekraft anderer Zeitintervalle untersucht wird. Aus dem Verhältnis zwischen den erfassten akuten und chronischen Parametern wird ein dimensionsloser Quotient gebildet, der im Bereich eines sog. „Sweet Spots“ mit leistungsbedeutsamen Anpassungsprozessen und verringerten Verletzungsrisiken einhergehen soll (Abb. 2). Da es sich um einen Quotienten handelt, spielt die absolute Höhe der Trainingsbelastung und -beanspruchung eine untergeordnete Rolle, was unter Berücksichtigung der hohen Trainingsumfänge und -intensitäten sowie der Pathogenese der überlastungsbedingten Verletzungen im Spitzenfußball kritisch zu sehen ist. Nichtdestotrotz soll es darum gehen, sprunghafte akute Veränderungen zu vermeiden. Es ist anzumerken, dass sich beim ACWR um ein theoretisches und mathematisches Konzept mit z.Z. geringer bis keiner (kausalen) Evidenz handelt, welches hinsichtlich seiner Validität zum Vermeiden von vorwiegend überlastungsbedingten Sportverletzungen dringend weiter evaluiert werden muss. Ein weiterer, vielversprechender Ansatz ist die Bestimmung von gewebespezifischen molekulargenetischen Biomarkern in der Zirkulation und deren Assoziation zu überlastungsbedingten Pathologien – z.B. von sog. mikro-RNAs aus dem Kapillarblut. Der Ansatz ist vielversprechend, da erste eigene Studien darauf hindeuten, dass zirkulierende mikro-RNAs existieren, welche für die frühzeitige Erkennung von z.B. Tendinopathien genutzt werden können.

Acute:Chronic Workload-Ratio (ACWR) Model (Gabbett, 2015).

Beide verwendeten Ansätze haben gemeinsam, dass man versucht dem Auftreten überlastungsbedingter Verletzung durch eine frühzeitige Erkennung und damit einhergehenden angepassten Trainingssteuerung entgegenzuwirken. Neben diesem präventiven Grundgedanken, können die skizzierten Ansätze auch genutzt werden, um die Rehabilitation von Verletzungen weiter zu optimieren. Sie können dem Trainer- und medizinischem Funktionsteam somit als potentielle Entscheidungshilfe für die Anwendung und Periodisierung von Trainingsmaßnahmen im Rahmen des „Return-to-Sports“ dienen. Um das volle Potential solcher Ansätze zu nutzen, bedarf es nicht nur weiterer experimenteller Forschung, sondern gerade auch für die bevorstehende Fußball-Weltmeisterschaft einer noch engeren Verzahnung der Athleten, Trainern und Trainingswissenschaftlern, Medizinern und Physiotherapeuten – also sämtlichen in der GOTS aktiven Berufsgruppen.

Trotz politisch kontroverser Diskussionen wünschen wir Ihnen aus trainingswissenschaftlich-sportmedizinischer Sich viel Freunde beim Verfolgen der Fußball-Weltmeisterschaft 2022!

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DER AUTOR

Juniorprofessor Dr. rer. nat. Matthias W. Hoppe ist an der Sportwissenschaftlichen Fakultät der Universität Leipzig als Beauftragter für den Spitzensport tätig. Er leitet das Institut für Bewegungs- und Trainingswissenschaft sowie die Abteilung für Sportspiele an der Sportwissenschaftlichen Fakultät und ist Mitglied des GOTS-Komitees Prävention.

in Zusammenarbeit mit: Florian Wegener, Universität Leipzig, Bewegungs- und Trainingswissenschaft

 

 

 

Literaturempfehlungen

Jeffries et al. Development of a revised conceptual framework of physical training for use in research and practice. Sports Med; 2022.

Gabbet, T. The training-injury prevention paradox: should athletes be training smarter and harder? Br J Sports Med; 2016.

Hoppe et al. Konditionelle Leistungsdiagnostik im Hochleistungsfußball – Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. OUP; 2018.